1 - Wie alles begann...

15.9K 620 67
                                    


„Romy! Kannst du bitte noch Tisch 9 abkassieren bevor du Schluss machst?", rief Maya durch die Küche, während ihr die Schweißperlen auf der Stirn standen.

„Klar, mach ich!"

Ich lief zu dem älteren Ehepaar, das mich schon ungeduldig erwartete. Ich legte ihnen die Rechnung auf den Tisch. Der Mann mit altmodischer Krawatte und drei Haaren auf dem Kopf zückte ein paar Scheine und legte sie auf das silberne Tellerchen.

„Stimmt so", sagte er mit einem Lächeln.

Großzügigkeit war definitiv etwas anderes. 

„Danke", entgegnete ich und zwang mir ebenfalls ein Lächeln auf mein Gesicht. Es fiel mir schwer, denn das hier war das Ende meiner 12-Stunden-Schicht. Meine Füße taten weg, mein Rücken schmerzte und meine Gesichtsmuskeln verkrampften schon vom Dauergrinsen. So musste sich ein Clown in Rente fühlen. „Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen noch!"

„Danke, Ihnen auch!"

Es wäre ein besserer Abend gewesen, wenn ich von Ihnen mehr als 20 Cent Trinkgeld bekommen hätte und das bei einer Rechnung von über 100 Euro. Früher hätte ich mir das zu Herzen genommen und an meiner Freundlichkeit gezweifelt, doch mittlerweile wusste ich, dass manche Menschen einfach Geizhälse waren. Da war es ganz egal wie sehr man sich anstrengte. 

Ich verließ den Tisch und riss meine Bluse vom Körper sobald ich in unserer Umkleide, die gleichzeitig auch als Abstellkammer diente, ankam.

„War ein harter Tag, oder?", fragte Lisa, die ebenfalls endlich in den Feierabend entlassen wurde. „Geht es dir wieder besser?"

Ich hatte mich heute Morgen übergeben müssen, was vermutlich auf das Sushi von gestern Abend in der Kombination mit der abartigen Hitzewelle, die wir momentan hatten, zurückzuführen war.

„Ja, es geht mir wieder gut, aber diese Hitze hat mich echt wahnsinnig gemacht! Aber ich bin trotzdem froh, dass ich nicht die Spätschicht habe. Maya meinte, dass ein Dutzend Tische für einen Junggesellenabschied reserviert wurden."

„Ja, da kann ich drauf verzichten!", stimmte Lisa mir zu. „Wie kommst mit dem Lernen voran? Schreibst du nächste Woche nicht Mikroökonomie?"

Sie sollte mich bloß nicht daran erinnern.
„Meine Lerngruppe ist ein einziger unmotivierter Haufen. Es könnte besser laufen, aber ich liege trotzdem noch ganz gut im Zeitplan."

Lisa lächelte schief, während sie in eine Jogginghose schlüpfte. 

„Was frage ich überhaupt? Hast du jemals etwas Schlechteres als eine 1 vor dem Komma gehabt?"

Ich antwortete nicht. Lisa kannte die Antwort, denn auch sie studierte Wirtschaftsingenieurwesen und es war bei uns wider Willen Gesprächsthema Nummer 1.

„Du bist echt die ehrgeizigste Studentin, die ich kenne. Du schwänzt nicht mal Vorlesungen, oder?"
Ich schüttelte den Kopf.

Ich hatte das Glück, dass mir mein Studium wirklich Spaß machte und ich mich dafür interessierte.

„Nicht mal, wenn sie schon um 8 anfangen?"

„Nein, ich sehe dieses Studium als Chance. Je besser meine Noten sind, umso besser sind meine Jobchancen. So einfach ist das."

Lisa seufzte.

„Du wirst noch einmal die Welt erobern und zu einem besseren Ort machen! Du wirst diesen ganzen Anzugträgern in ihren Allerwertesten treten und denen zeigen, was Frauen alles können. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer! Ich wünschte wirklich, ich hätte deinen Ehrgeiz."

„Dafür bekomme ich immer nur halb so viel Trinkgeld wie du!"

Lisa lachte. Würde Sie im Playboy abgebildet sein, wäre das Magazin innerhalb von Stunden ausverkauft. Dessen war ich mir sicher! Lisa war der Inbegriff einer Sexbombe. Großer straffer Busen, wohlgeformter Hintern, bildhübsches Gesicht und eine Taille, die schmaler war als so mancher Oberschenkel. 

„Das habe ich auch nur denen zu verdanken!", sagte sie und zeigte auf ihre üppige Oberweite.

Sie kannte ihre Reize ganz genau.

Ich sah auf meine Brüste herunter. Selbst mir Push-Ups konnte man da nicht mehr viel retten.

„Guck nicht so traurig!", sprach Lisa sanft. „Vielleicht hast du nicht die größten Brüste, aber dafür hast du Haare, von dem selbst jedes Pantene-Pro-V-Model träumt." Dankbar für die Aufmunterung sah ich sie an. Ich hätte trotzdem lieber mehr Volumen im Busen und dafür weniger in den Haaren. „Soll ich dich ein Stück mitnehmen?", fragte Lisa schließlich und ließ ihre Autoschlüssel vor meiner Nase baumeln.

„Das ist lieb, aber ich bin heute mit Fahrrad hier."
„Ah okay, dann sehen wir uns Montagabend wieder?"

„Ja! Fahr vorsichtig!"

„Du auch!"

Sie drückte mich noch einmal zum Abschied und ließ mich dann zwischen Konserven und Geschirrtürmen zurück. Ich zog mir meinen Kapuzenpullover über und stopfte meine Arbeitskleidung in meinen Rucksack.

„Bis Montag", rief ich Maya zu, als ich nach draußen zu meinem Fahrrad ging. „Lass dich von den Männern heute Abend nicht ärgern!"

Sie lachte. Dabei war meine Warnung ernst gemeint! Unser Restaurant war beliebt für solche Veranstaltungen und hätte ich für jeden Hinterngrapscher einen Euro bekommen, dann hätte ich es heute nicht mehr nötig hier zu kellnern.

„Ich? Hast du jemals gesehen, dass ich mir von Männern auf der Nase rumtanzen lasse?"

Da hatte sie auch wieder Recht. Maya war eine Powerfrau, die sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen ließ. Schon gar nicht von ein paar Halbstarken, die ihren betrunkenen Freund in die Ehe verabschieden wollten.

„Romy!", rief Maya, als ich schon fast draußen war. „Vergiss dein Abendessen nicht!" Sie wedelten mit einer gefüllten Plastiktüte herum.

Wie hatte ich das nur vergessen können! Ich war eh schon am Verhungern.
„Danke", raunte ich ihr zu, griff nach der Tüte und drückte ihr einen Schmatzer auf die Wange.

„Nicht dafür!", tat es Maya ab. „Und lern zu Hause nicht mehr so viel! Gönn dir auch mal Freizeit!"

„Jaja", sagte ich und verschwand nach draußen, ehe ich mir anhören musste, dass ich noch jung war und mein Leben nicht nur in Restaurants, Hörsälen und Büchern stattfinden sollte.

Ich schloss mein Fahrrad ab. Es war erst 20 Uhr und als normale Zwanzigjährige würde ich jetzt wohl in den nächsten Klub fahren und mir meinen Abend schön saufen. Doch nächste Woche stand eine Prüfung an. Ich musste unbedingt noch lernen.

Also schwang ich mich auf meinen Drahtesel und fuhr direkt nach Hause.

Ehe ich jedoch irgendein Buch in meine Hände nehmen würde, brauchte ich erst einmal Essen. Ich schmiss mich auf meine alte Ledercouch und öffnete mein Fresspaket. Eine riesige Portion Pommes mit Brokkoli. Maya wusste, wie sie mich glücklich machen konnte. Ich schlang es herunter, als hätte man mich wochenlang ohne Nahrung in einen Käfig gesperrt. Meine Essmanieren glichen dabei die eines Höhlenmenschen. Wenn ich Hunger hatte, konnte ich mich nicht beherrschen. Als Dessert hatte sie mir einen Schokobrownie eingepackt. Auch dieser wurde eifrig in den Mund geschoben.

Zwar fühlte ich mich jetzt vollgefressen und nicht mehr in der Lage irgendetwas zu machen, doch wenigstens Kapitel 5 musste ich heute noch Abschließen bevor ich ins Bett ging. Ich griff in meinen Rucksack und suchte nach dem dicken Buch. Doch meine Hände fassten ins Leere.

NEIN!

Mir fiel sofort ein, warum mein Rucksack ein Kilo leichter war. Ich hatte das Buch in meiner zehnminütigen Mittagspause ausgepackt. Es lag noch in meinem Spind!

Mir war wirklich keine Pause vergönnt. Für morgen stand den ganzen Tag lernen auf dem Programm. Das bedeutete, dass ich noch einmal zurückfahren musste, um dieses verdammte Buch zu holen. 

My Little SecretTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon