1. Das ist kein Scherz

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»Dies ist die Mailbox von –«

Genervt lege ich auf. Das ist jetzt schon das sechsunddreißigste Mal, dass ich versuche ihn zu erreichen. ›Arschloch‹, denke ich frustriert.
Kann es wirklich so verdammt schwer sein an sein verdammtes Handy zu gehen?!

Der Witz an der ganzen Sache ist, dass ich in einem Call-Center arbeite. Es ist zum Schießen, ich weiß. Die blöde Kuh, die ihr Geld damit verdient an der Strippe zu hängen, bringt es nicht fertig ihren Freund zu erreichen.

Wenn die Situation nicht so ernst wäre, würde ich lachen.

Kraftlos sacke ich auf meinem Stuhl zusammen. Mittlerweile bin ich so erschöpft, dass es mir sogar egal ist, wenn einer meiner Kollegen mich beim Telefonieren erwischt.
Ich meine, bei privaten Telefongesprächen.
Sich tagelang Sorgen zu machen ermüdet enorm...

Erst kommt da die hoffnungsvolle Phase: Man hofft eben, dass die vermisste Person doch noch auftaucht, nach dem Motto: ›Jetzt erstmal entspannen, es bringt nichts, sich verrückt zu machen, er wird schon wieder kommen.‹

Dann folgt die manische Phase, die besonders tückisch ist, weil sie einen von hinten anspringt wie eine blutrünstige Raubkatze: Man merkt gar nicht, wie man sich immer weiter hineinsteigert und ehe man sich's versieht, hat man seinen verschwundenen Freund stolze sechsunddreißig Mal angeklingelt.

Dann kommt zu guter Letzt die resignierte Phase: Man stumpft innerlich ab und sieht die Welt wie durch einen verschwommenen, trüben Schleier, man ist müde. Unendlich müde. So müde, dass man gut hundert Jahre durchschlafen könnte, genau wie Dornröschen.

In dieser Phase befinde ich mich wohl gerade.

Nur ist das hier leider kein Märchen und ich werde auch nicht wieder von einem Prinzen wachgeküsst wenn ich mit der Stirn auf meiner Tastatur einschlafen sollte. Höchstes kriege ich hässliche quadratische Abdrücke auf der Haut, was wohl alles andere als märchenhaft ist.

Nein, das hier ist definitiv kein Märchen, es ist die Realität... Die Realität, in der mein Freund Jack einfach sang- und klanglos verschwunden ist. Einfach so. Kein Zeichen. Kein Irgendwas.
Kein Nichts.

Mit leerem Blick stiere ich auf meinen PC- Bildschirm. Was soll ich bloß tun? Keiner seiner Freunde weiß etwas, Familie hat er kaum und auch die wissen nichts – oder wollen nichts wissen, besser gesagt.

Ich habe schon alle seine Rückzugsorte abgeklappert, zu denen er zum Beispiel immer geht wenn wir uns gestritten haben oder er einfach eine Atempause vom Leben braucht.

Von der Feuerstelle unter der Brücke am Fluss bis zu seinem schrottigen Baumhaus tief im Wald... nichts. Keine Spur. Nicht mal ein verrotztes Taschentuch. Einfach gar nichts.

Ich seufze. Ich habe keine andere Wahl mehr. Ich muss zur Polizei.

Sehnsüchtig starre ich auf die Uhr in der Ecke meines Bildschirms. Nur noch eine Minute, dann habe ich Feierabend. Nur noch sechzig Sekunden... noch vierzig... noch–

Plötzlich senkt sich ein großer Schatten auf meinen Tisch.

»Ich erinnere mich nicht daran, Sie fürs Faulenzen zu bezahlen, junge Dame«, tönt eine schnarrende Stimme an mein Ohr. Ertappt zucke ich zusammen. Mein Chef ragt riesig wie ein Fels über mir auf und starrt mich böse an.
»Entschuldigung, ich... habe furchtbare Kopfschmerzen.«

FoxtrottWhere stories live. Discover now