VII: von Stromstößen und Sweatshirtjacken

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Martha hatte keine Ahnung, wie lange sie hier schon saß. Mittlerweile weinte sie nicht mehr so stark und sie hatte ihre Atmung unter Kontrolle. Dennoch flossen ihr stumm vereinzelte Tränen über die Wangen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das ganze Chaos jemals in Ordnung bringen könnte.

Plötzlich hörte sie ein Rascheln. Sie drehte erschrocken ihren Kopf in die Richtung, aus der es kam. "Hallo, ist da jemand?", fragte sie vorsichtig. Sie bibberte. Obwohl sie eigentlich nicht zu der Sorte Mädchen gehörte, die bei allem gleich Panik bekamen, wurde sie unruhig.

Sie identifizierte das Geräusch als Schritte, äußerst schnelle, aber gleichmäßige Schritte.

Als die Person nahe genug war, erkannte sie sie. Es war Till, der mit Kopfhörern auf den Ohren und in Sportkleidung durch den Wald rannte. Sie wischte sich schnell die Tränen aus dem Gesicht und kämmte sich mit ihren Fingern durch die zerzausten Haare.

Till hatte sie nun auch gesehen. Er verlangsamte sein Tempo und kam näher. "Martha?" Er nahm seine Kopfhörer von den Ohren.

Martha sprang von der Bank auf und drehte sich um. Sie wollte jetzt mit niemandem reden, besonders nicht mit ihm.

"Jetzt warte doch mal!", rief Till und hielt sie an ihrer Schulter fest. Martha drehte sich wütend um und fauchte: "Was ist?"

Sie stand nun so nah neben Till, dass sie sein Gesicht deutlich erkennen konnte. Kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn und seine Augen schimmerten glasig. Sie hörte seine Atmung, die ganz flach war.

"Können wir uns kurz setzen?", fragte er bittend.

"Hast du nicht schon alles, was du wolltest? Was willst du denn noch?" Martha sah es nicht ein, mit ihm ein Gespräch zu führen. "Es ist immerhin Till, der hinterhältigste Sportler und größter Vollidiot auf diesem Planteten.", dachte sie.

"Bitte." Martha schaute verwundert auf. Da war etwas in seiner Stimme, das neu war. Etwas, das Martha tatsächlich dazu bewegte, sich neben ihn auf die Bank zu setzen.

"Ich will, naja, ich wollte mich entschuldigen.", druckte er herum. Er redete so schnell und leise, dass Martha einen Moment brauchte, um zu realisieren, dass sie das richtig verstanden hatte.

"Dann warst du es doch! Du hast meine Pläne geklaut, sie an Kasimir ausprobiert und es so aussehen lassen, als ob ich das gewesen wäre! Das ist so verdammt link!"

"Ich weiß. Und ich wollte mich dafür entschuldigen, es war so unglaublich dämlich von mir." Die sonst vorhandene Arroganz in seiner Stimme hatte sich in Luft aufgelöst.

"Aber warum? Nele hat mich aus unserem Zimmer geschmissen und Kasimir hat sich von mir getrennt. Warum hast du das getan?" In Marthas Augenwinkeln sammelten sich erneut Tränen.

"Ich wollte nicht, dass sich dieses Schuljahr etwas ändert. Die letzten Jahre auf dieser Schule waren wunderbar und dieses Internat ist für mich zu einem Zuhause geworden. Das einzige, was ich habe. Ich wollte nicht, dass ihr, die Einsteiner, etwas daran ändert. Ich wollte um jeden Preis verhindern, dass ihr mein Zuhause zerstört." Auch Tills Augen wurden wieder glasig.

"Warum ist das Sportinternat dein einziges Zuhause? Was ist mit deinen Eltern?", fragte Martha verwundert.

"Ich bin Vollwaise. Ich habe meine gesamte Kindheit in einem Heim verbracht. Seit der sechsten Klasse wohne ich im Sportinternat, dank eines Sportstipendiums." Till senkte den Blick. "Ich dachte, wenn die Schulen zusammengelegt werden, verliere ich mein Stipendium. Weil, ihr seid ja alle voll die Brainis und ich habe nicht gerade die besten Noten und..." Tills Stimme brach. Eine kleine Träne suchte sich ihren Weg über seine Wange.

"Das wusste ich nicht. Wie schrecklich. Das tut mir echt leid." Martha konnte zum ersten Mal nachvollziehen, warum er sich so benommen hatte.

"Braucht es nicht. Du kannst ja nichts dafür. Und ich weiß, dass das nicht entschuldigt, was ich gemacht habe. Es war hirnrissig. Ihr könnt schließlich nichts dafür, dass die Schulen zusammengelegt wurden." Till sah so bedröppelt aus, dass Martha Mitleid mit ihm bekam.

Sie rutschte näher an ihn heran. "Und warum rennst du mitten in der Nacht durch den Wald?" Sie schaute ihn fragend an.

"Ich musste den Kopf frei kriegen und etwas Abstand von allem bekommen. Ich habe mich so schlecht gefühlt, als Timo und Nick mir erzählt haben, wie krass die Sache mit Nele und Kasimir eskaliert ist. Und dann haben wir uns noch gestritten, weil sie die Aktion zu extrem fanden. Ich glaube nicht, dass sie jemals wieder etwas mit mir zu tun haben wollen."

"Das wird schon wieder." Martha berührte tröstend seine Schulter.

"Es tut mir wirklich unglaublich leid. Ich kläre das morgen mit Nele und Kasimir, mir werden sie ja wohl Glauben schenken."

Martha lächelte ihm dankbar zu. Till drehte sich zu ihr. Er breitete etwa zögernd seine Arme aus und Martha ließ sich von ihm umarmen. Als er ihre Haut berührte, zuckte sie leicht zusammen. Ein Stromstoß durchfuhr ihren ganzen Körper.

Sie fühlte sich wohl in seinen Armen, was sie erschrak. Sie brachte wieder Abstand zwischen Till und sich, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Till fuhr sich verlegen durch die Haare.

Martha gähnte. "Wollen wir langsam zurück?", fragte Till. "Nele hat mich rausgeschmissen, sie wird mich wohl kaum in unserem Zimmer haben wollen. Ich möchte nicht zurück."

"Okay." Till zog seine graue Sweatshirtjacke aus. "Leg dich hin." Er deutete auf seinen Schoß.

"Wirklich?", fragte Martha ungläubig.

"Klar." Till zuckte mit den Schultern. "Du willst nicht zurück ins Internat und es gibt keinen anderen Ort, wo wir sonst noch hinkönnten. Also bleiben wir eben hier." Er klopfte auf seine Schenkel.

Martha legte vorsichtig ihren Kopf auf seinen Schoß. "Danke, Till."

Till nahm seine Sweatshirtjacke und breitete sie über Marthas Oberkörper aus. "Schlaf gut."

"Du auch.", wisperte Martha, bevor sie in einen tiefen Schlaf fiel.

Till und Martha - eine Schloss Einstein-LovestoryWhere stories live. Discover now