Kapitel 31

4.4K 221 10
                                    

»Nein«, flüsterte ich und mein Magen drehte sich um. »Was?«, fragte Paulas Mutter am Ende der Leitung irritiert. Ich konnte nichts sagen. Was sollte ich auch sagen? Ihre Tochter befand sich in den Händen eines Psychopathen. Helene nahm mir das Handy aus der Hand. Sie fand ihre Fassung schneller wieder als ich. Jette starrte noch immer auf das Bild und stumme Tränen liefen an ihrer Wange hinab. Ich hörte Helene sagen: »Es tut mir so leid. Ich rufe sofort die Polizei an.« Mehr bekam ich nicht mit. Sie erklärte ihr alles. Ich konnte die ganze Zeit nur an den Anblick des bewusstlosen Körpers denken. Ich wusste, dass es in diesem Moment unangebracht war, aber ich war so froh darüber, dass es nicht Jette getroffen hatte. Doch trotzdem zerstörte es etwas in mir.

Sofort rief Helene die Polizei. Ich bewunderte sie dafür, dass sie einen relativ kühlen Kopf bewahren konnte. Was wollte er mit ihr anstellen? Würde er ihr etwas antun? Wie hatte er es geschafft, sie an diesen Ort zu bringen? Mir wurde übel. Ich rannte ins Badezimmer und übergab mich. Mir war ganz schwindelig. Helene kam mir nach und hielt meine Haare zur Seite. »Wow, seit kurzer Zeit ein Paar und dann passiert so viel Mist.« Sie lächelte mich leicht an. »Das schweißt zusammen.« Sie half mir hoch und ich spülte mir den Mund aus. »Die Polizei wird gleich hier auftauchen. Paulas Eltern auch.« Ich nickte schwach.

Als wir gerade zurück in der Küche waren, klingelte es an der Tür. Es waren Paulas Eltern. Ihre Mutter zitterte am ganzen Körper. Sie hatte jegliche Gesichtsfarbe verloren und starrte in die Luft. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie es ihr ging. »Ich möchte die Nachricht sehen«, flüsterte sie und schloss die Augen. »Bitte.« Ich hielt es für keine gute Idee, aber ich an ihrer Stelle hätte es auch sehen wollen. Helene übergab ihr das Handy. »Mein kleines Mädchen«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Mein armes kleines Mädchen.« Sie brach zusammen. Ihr Mann half ihr beim Aufstehen und setzte sie auf einen Stuhl. Ich fühlte mich so hilflos in diesem Moment. Ich konnte ihr nicht versprechen, dass alles wieder gut wurde. Denn ich wusste es schlichtweg einfach nicht.

Ein erneutes Klingeln an der Tür erfüllte den Raum. Helene öffnete und die Polizistin und der Polizist aus der Schule standen in der Küche. Sie wollten die Nachricht sehen. Ich bekam kaum etwas mit, ich stand noch immer unter Schock. »Was machen wir denn jetzt?«, schluchzte Paulas Mutter. »Wir kennen seinen Aufenthaltsort nicht, aber es wird nun verstärkt nach ihr gesucht. Die Kollegen sind bereits unterwegs. Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte? Wissen Sie, wo das sein könnte?« Alle schüttelten den Kopf, bis auf Jette. Ich fragte sie: »Weißt du, wo das ist?« Etwas unentschlossen sah sie in die Runde. »Ich weiß nicht. Mir kommt es bekannt vor. Als hätte ich es schon einmal im Traum gesehen oder so. Ich überlege schon die ganze Zeit, aber es fällt mir einfach nicht ein.« Sie sah verletzlich aus. Wie ein Tier, das man am Straßenrand ausgesetzt hatte.

»Wenn du den Ort kennst, ist er wahrscheinlich in der Nähe, oder?«, hakte die Polizistin nach. Jette fing an zu weinen. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.« Sie sah Paulas Eltern an: »Es tut mir leid. Ich versuche ja, mich zu erinnern.« Es war wieder ruhig geworden. Helene fragte: »Soll ich ihm antworten? Vielleicht geht es wieder um eine Erpressung und er will seine Forderung stellen.« War das eine gute Idee? Ich wollte nicht, dass sie dort noch mehr hineingezogen wurde. »Ja, das probieren wir. Vielleicht lässt er das Mädchen unbeschädigt gehen.« Nur das Wort »vielleicht« ließ mich nichts Gutes ahnen. Man konnte nie sagen, was bei einer Entführung passierte. Herrn Meyer war es bestimmt egal. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Er wusste, dass man ihn suchte und auf ihn eine Strafe wartete.

Helene schrieb: »Bitte lass Paula gehen. Sie hat mit der ganzen Sache nichts zu tun. Was willst du? Ich gebe dir alles, was du möchtest, wenn du sie nur gehen lässt.« Wir warteten. Aber es kam keine Antwort. Fast hatten wir die Hoffnung aufgegeben, da kam die Antwort doch: »Ich möchte gar nichts mehr. Du hattest deine Chance, also musst du jetzt mir den Konsequenzen leben. Du kannst ihr nicht mehr helfen.« Sie las die Nachricht vor, dabei wurde ihre Stimme immer dünner. Du kannst ihr nicht mehr helfen? Was hatte er ihr angetan? Helene antwortete: »Bitte gib mir noch eine Chance. Das Mädchen hat damit nichts zu tun.« Dieses Mal kam prompt die Antwort: »Du kannst mich mal. Ihr müsst mich gar nicht suchen, ihr findet mich sowieso nicht.«

»Können Sie die Nummer nicht zurückverfolgen?«, fragte Paulas Mutter und ihre Stimme klang einfach nur monoton. Wir durften jetzt nicht aufgeben. »Ich bin mir nicht sicher. Ich gebe die Nummer einmal an die Kollegen durch. Die überprüfen das.« Dann war er im Flur verschwunden und man hörte nur noch ein Murmeln. »Wir müssen selbst losziehen und sie suchen. Vielleicht finden wir sie«, schlug ihr Vater vor, aber ihre Mutter fuhr ihn an: »Wo willst du denn anfangen? Sie könnte überall sein.« Er war sofort still. Sie befanden sich in einer Ausnahmesituation. Dann kam der Polizist wieder. »Die Kollegen sind dran.« Etwas betreten sah er zu Boden. Er war nicht persönlich involviert, doch trotzdem ging es immerhin um ein Mädchen.

Alle zerbrachen sich den Kopf, doch niemand hatte eine Lösung. Plötzlich sprang Jette auf und schrie laut: »Scheiße, ich weiß, wo das ist!« Alle Augenpaare waren auf sie gerichtet. »Was? Wo?«, wollte Paulas Papa ungeduldig wissen und sah sie mit großen Augen an. »Das ist in der Schule. Ein gesperrter Bereich im alten Keller. Ich glaube, niemand kennt den Raum. Er ist so gut versteckt und getarnt. Ich habe ihn ab und zu da durchschlüpfen sehen, weil... Ich ihm gefolgt bin. Er hat einen Schlüssel dafür. Das eine Mal konnte ich einen Blick reinwerfen. Nur ganz kurz, aber ich bin mir sicher. Der Boden. Ich erkenne den Boden wieder.«

In den Augen der anderen konnte man Hoffnung entdecken. Wenn es sich wirklich um den Raum handelte, dann konnte ihre Verliebtheit Paula das Leben retten. Sofort sprangen alle auf. Wir stürmten die Treppe hinunter und die Polizei forderte Verstärkung an. Hoffnung war gut für die Menschen. Ich hoffte nur, dass diese nicht zerplatzte und dass es wirklich der Raum war, von dem Jette sprach. Wir fuhren los. Das Tempolimit wurde überschritten, aber das war völlig nebensächlich, denn es ging immerhin um ein Menschenleben. Wir rasten auf den Parkplatz der Schule. Nur Jette konnte uns den Weg zeigen. »Wir müssen auf die Kollegen warten«, sagte der Polizist, als auch er ausstieg. »So ein Quatsch. Ich gehe da jetzt rein. Es geht um das Leben meiner Tochter«, zischte Paulas Vater zurück. »Da zählt jede Sekunde. Jette, zeige mir bitte den Weg. Wir müssen uns leise verhalten.«

Jette ging vor und ein Klammergriff legte sich um mein Herz. Es gefiel mir gar nicht, dass sie uns führte. Sobald wir die Tür entdeckt hatten, würde sie sich zurückziehen. Dafür würde ich sorgen. Zum Glück hatte Helene ihren Schlüssel für die Schule dabei. »Den brauchen wir nicht«, erklärte sie und alle sahen sie verdutzt an. »Wir müssen in den alten Teil der Keller. Der ist von außen zugänglich.« Wir folgten ihr stumm. Wir schlichen über den Schulhof in Richtung Mülltonnen. »Ich bin noch nie hier gewesen«, stellte Helene neben mir verwundert fest. Plötzlich bog Jette links ab. Man erkannte den Weg kaum noch, alles war verwildert. Wir liefen ungefähr 20 Meter geradeaus, dann blieben wir stehen. »Wir müssen nun hier runter«, sagte Jette und ihre Stimme war kaum zu hören. Genau vor meiner Nase führten einige Stufen nach unten. »Ich will nicht, dass du da reingehst«, sagte ich und hielt sie zurück. »Aber Mama, die Tür ist versteckt. Ihr findet sie sonst nicht.« Mein Herz raste. Ich hatte fürchterliche Angst.

Dann stieß sie leise und langsam die Tür auf. Es war sehr staubig hier unten und ein wahres Labyrinth. Warum waren hier so viele Gänge und Türen? Oder wirkte das alles nur so irreführend, weil es dunkel war? Ich wusste es nicht. Wir gingen noch durch zwei Gänge, dann blieben wir wieder stehen. »Hier ist es.« Ich sah keine Tür. Sie zeigte auf die kleine Türklinke, die gut hinter Efeu oder so versteckt war. Eine Taschenlampe, die anscheinend bald den Geist aufgeben würde, spendete uns spärliches Licht. Bevor jemand von uns die Tür öffnete, hörten wir sie. Schreie. Spitze, schrille, angsterfüllte Schreie. Hinter der Tür fanden sie ihren Ursprung. Es war Paula, die um ihr Leben schrie.

Herzgeflüster || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt