Kapitel 1

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Etwas genervt schloss ich die Haustür auf. Draußen war es noch immer sehr heiß, obwohl es schon kurz nach 19 Uhr war und wir bereits Ende September hatten. Ich war froh, wenn die Temperaturen bald wieder kühler wurden. Ich wünschte mir nicht unbedingt den Winter, aber ich liebte den Herbst sehr. Müde zog ich meine Schuhe aus und stellte sie ordentlich in den Schuhschrank. Ich hatte einen langen Tag im Büro, da ging es momentan drunter und drüber. Ich war für das Personal zuständig. Seit dem letzten Jahr leitete ich diese Abteilung. Die Bezahlung war natürlich besser als vorher, aber dafür hatte ich nun mehr Verantwortung und war oft länger im Büro, was mir eigentlich nicht so gut passte. Denn ich war alleinerziehend und musste mich um meine Tochter Jette kümmern, die mit ihren 14 Jahren mitten in der Pubertät steckte.

Ich ging in die Küche und holte mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Ich nahm mir ein Glas und trank dann einen Schluck. Einen Moment verharrte ich in dieser Stellung und genoss die Ruhe, dann ging eine Tür im Flur auf. »Hey Mama, wurde ja wieder etwas später heute, was?« begrüßte Jette mich. Ich stellte das Glas ab, massierte mir die Schläfen, denn ich merkte, wie sich die Kopfschmerzen langsam ausbreiteten. »Ja, war wieder viel los. Wie war denn dein Tag? Hast du schon gegessen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe noch nichts gegessen.« Sie verhielt sich anders als sonst. Das merkte ich. Ich konnte nur noch nicht genau sagen, woran es lag. »Wollen wir uns eine Pizza bestellen? Ich mag heute nicht mehr kochen.« Sie nickte. Ich rief beim Lieferdienst an und gab unsere Bestellung auf.

Dann hakte ich nach: »Wie war denn nun dein Tag?« Sie machte ein komisches Gesicht, stöhnte und meinte: »Na gut.« Sie lief in ihr Zimmer und kam mit ihrem Hausaufgabenheft wieder. Verdutzt sah ich sie an. »Hier, lies.« Ich schnappte es mir und wagte einen Blick hinein. Jemand hatte mit einer sauberen Handschrift und einem roten Fineliner einen kleinen Text in die dafür vorgesehenen Felder geschrieben. Ich begann zu lesen.

»Sehr geehrte Frau Rabsch,

ich möchte gern einen Termin mit Ihnen vereinbaren, um mit Ihnen über Jette zu sprechen. Bitte geben Sie mir die Tage an, an denen es Ihnen passt. Ich kann an jedem Tag der Woche (außer freitags). Gern können Sie mich morgen auch zwischen 11-13:30 Uhr anrufen, dann können wir den Termin telefonisch absprechen. Vielen Dank.

Mit freundlichen Grüßen
Helene Sturm«

Jette sah zu Boden, als ich aufblickte. »Was soll das heißen?«, fragte ich sie. »Warum will deine Lehrerin mit mir sprechen?« Sie zuckte mit den Schultern, aber ich wusste, dass sie den Grund kannte. Ich hatte Frau Sturm bislang noch nicht kennengelernt, denn sie war erst seit einigen Wochen an der Schule meiner Tochter Lehrerin. Und schon gab es die ersten Probleme? »Was hast du wieder angestellt?«, fragte ich nun bestimmter nach. In der Vergangenheit fiel Jette des Öfteren in der Schule auf. Sie war laut im Unterricht und stellte nur Unsinn an. Ich hatte schon einige Gespräche deshalb führen müssen, aber ich dachte, dass es in diesem Schuljahr besser laufen würde.

»Das wird sie dir schon sagen«, meinte sie launisch und innerlich brodelte es in mir. Warum konnte sie mir nicht einfach sagen, was los war? Ich hatte wirklich keine Lust auf unnötige Diskussionen, aber sie ließ mir keine Wahl. »Ich möchte es aber von dir hören.« Sie stieß sich mit den Händen von der Arbeitsplatte ab und schnauzte mich an: »Boah, Mama ey. Ich habe jetzt gar keine Lust, MIT DIR darüber zu reden.« Sie spuckte mir die Worte regelrecht ins Gesicht. »Du kannst ordentlich mit mir reden. Das Thema hatten wir schon einmal. Ich bin nicht eine Freundin von dir, sondern deine Mutter.« Wütend sah sie mich an und verließ das Zimmer. Ich hatte gerade einfach keine Kraft, um weiter nachzufragen. Ich wollte nur noch etwas essen, duschen und dann ins Bett. Einige Zeit später klingelte es an der Tür. Ich nahm die Pizza entgegen und gab dem Pizzaboten ein großzügiges Trinkgeld. Er freute sich, bedankte sich und wünschte mir noch einen schönen Abend. Den werde ich haben, dachte ich grimmig.

Ich wollte nicht mit Jette streiten. Ich wollte doch nur, dass sie mit mir sprach. Natürlich war mir klar, dass sie eine schwierige Phase durchlebte und ich gab mein Bestes, aber es war eben nicht immer so einfach. Vor allem, wenn ich einfach nur kaputt vom Tag war. So wie heute. Versöhnlich klopfte ich an ihre Zimmertür. »Jette? Es tut mir leid, ich will nicht streiten. Können wir jetzt zusammen Abendbrot essen?« Keine Reaktion ihrerseits. Ich seufzte, ging in die Küche und setzte mich. Kurze Zeit später kam sie. »Ich esse unter einer Bedingung mit dir.« Fragend blickte ich sie an. »Wir reden heute nicht mehr über die Schule. Deal?« Ich gab nach. Ich wollte nur meine Pizza genießen. »Ok, Deal.«

Nachdem wir aufgegessen hatten, räumte ich die Kartons in den Müll und ging heiß duschen. Das Wasser prickelte auf meiner Haut und mir fielen fast die Augen zu. Dann putzte ich mir die Zähne und ging noch kurz zu Jette ins Zimmer. Sie lag bereits im Bett. »Gute Nacht, mein Schatz«, sagte ich zärtlich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Das war unser Ritual. Und ganz egal, was sie anstellte und wie frech sie war, das ließen wir nicht einen Tag aus. Außer wenn sie natürlich woanders oder bei ihrem Papa übernachtete.

Am nächsten Morgen war ich hundemüde. Und es war erst Dienstag, dachte ich und stand auf. Ich hatte Urlaub mal wieder ganz dringend nötig. Um 12 Uhr machte ich Pause und verließ das Büro, um Frau Sturm anzurufen. Es klingelte. Mehrere Male. Sie aß wahrscheinlich gerade selbst Mittag. Ich würde es später noch einmal probieren, dachte ich, aber dann nahm sie plötzlich doch ab. »Ja, Sturm?« Sie klang etwas abgehetzt, aber ich war positiv überrascht von ihrer Stimme. Sie war sehr sanft und das brachte mich für einen Moment aus der Fassung. »Hallo?«, fragte sie. »Wer ist da?« Dann riss ich mich zusammen und konzentrierte mich. »Guten Tag, hier spricht Hanna Rabsch. Ich wollte bzgl. des Termins wegen Jette anrufen.« Kurze Pause, dann lachte sie leise auf. »Oh, das ist schön, dass Sie sich direkt melden. Wann passt es Ihnen denn?« Wow, ihre Stimme klang echt schön. »Ähm... es ist vielleicht etwas spontan, aber passt es Ihnen morgen?«, wollte ich von ihr wissen. Ich hörte, wie im Hintergrund Papier raschelte. »Ganz kleinen Moment. Ich schaue mal eben nach.« Dann wurde das Rascheln lauter. »Ja, also bei mir passt es sehr gut. Wie sieht es mit der Uhrzeit aus?« Ich überlegte. »Also ich bin morgen bis 15:30 Uhr im Büro. Könnte dann also gegen 16 Uhr in der Schule sein. Oder ist Ihnen das zu spät?« Früher ging es nicht, ich hatte um 14 Uhr noch ein Vorstellungsgespräch. »Das passt mir auch sehr gut. Am besten treffen wir uns direkt im Klassenzimmer. Raum 207, aber den kennen Sie ja sicherlich.« Ich lachte. »Ja, den kenne ich. Zufällig war es früher auch mein Klassenzimmer. Aber ich kenne ihn natürlich auch von den Elternversammlungen und so weiter«, stammelte ich und wunderte mich über mich selbst. Warum erzählte ich ihr das? Das war doch völlig unwichtig. »Ja, das ist ja wirklich ein Zufall.« Ich hörte sie am anderen Ende der Leitung schmunzeln. Na toll. »Gut, dann sehen wir uns also morgen um 16 Uhr. Haben Sie noch einen schönen Tag, Frau Rabsch«, verabschiedete sie sich fröhlich und ich erwiderte: »Danke, den wünsche ich Ihnen auch.« Dann legte sie auf und die Leitung war tot. Ich fragte mich, was Jette angestellt hatte und konnte es merkwürdigerweise kaum erwarten, die Frau mit der schönen Stimme kennenzulernen.

Herzgeflüster || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt