Kapitel 23

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Den Rest des Tages passierte nicht viel. Ich hatte genug zu verarbeiten und die Zeit brauchte ich auch dafür. Ich legte mich in die Badewanne, schloss die Augen und dachte nach. Meine Gefühle waren gemischt. Auf der einen Seite war ich glücklich, aber auf der anderen Seite... Ich konnte es nicht beschreiben. Es war das Unwissende, was mich schaffte. Jettes Reaktion. Ich tauchte mit meinem Kopf unter das Wasser. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Drei Sekunden. Vier Sekunden. Dann tauchte ich wieder auf. Dann klopfte es plötzlich an der Tür.

»Ja?«, fragte ich und schaute Jette fragend an, die den Raum betrat. »Ich habe mir gerade etwas überlegt.« Ich zog die Augenbrauen nach oben. »Was denn?« Sie räusperte sich. »Wir könnten ja morgen mal wieder an den Strand fahren. Ich weiß, dass das Wetter nicht so toll ist, aber es soll trocken sein. Wir könnten spazieren gehen und uns dann in ein Café setzen.« Mist, dachte ich. Eigentlich wollte ich zu Helene, aber ich wollte ihr den Wunsch nicht abschlagen. Natürlich fand ich es schön, wenn ich auch mal wieder Zeit mit meiner Tochter verbringen konnte. Das kam in letzter Zeit so selten vor. Deshalb antwortete ich: »Ja, gern.« Sie strahlte über das ganze Gesicht und war wieder verschwunden.

Als ich fertig war, schnappte ich mir direkt mein Handy. »Hey Helene, wir können uns morgen leider nicht sehen. Jette und ich fahren zum Strand nach Zingst. Das haben wir früher oft gemacht und das letzte Mal ist schon längere Zeit her, obwohl es direkt hier in der Nähe ist. Tut mir leid. Vielleicht sehen wir uns am Montag nach dem Feierabend? Ich könnte dann zu dir kommen. Du fehlst mir.« Ich wartete, aber es kam keine Antwort. War sie jetzt eingeschnappt? Sie konnte es doch verstehen, oder? Auch nach einer Stunde hatte ich keine Antwort. Ich seufzte. Plötzlich leuchtete mein Display auf. »Natürlich ist das in Ordnung. Freue mich auf Montag. Kann es kaum erwarten.«

Abends im Bett überkam mich eine heftige Sehnsucht. Ich musste tatsächlich weinen. Ich brach nicht in Tränen aus, so war es nicht. Es kullerten eher einige Tränen an meinen Wangen hinunter. Ich konnte es nicht aufhalten. Wie sehr konnte man einen Menschen vermissen? Ich hatte schon vergessen, wie es sich anfühlte. Irgendwann beruhigte ich mich wieder einigermaßen, aber wälzte mich im Bett umher. Was war nur mit mir los? Warum konnte ich nicht einfach einschlafen? Ich sah auf die Uhr. 00:23 Uhr. Plötzlich überkam mich eine Idee. Aber das konnte ich doch nicht machen, oder? Ich überlegte. Scheiße, doch. Ich musste es jetzt machen.

Ich schlug die Bettdecke von mir weg und schaltete das Nachtlicht an. Blieb einen Moment auf der Bettkante sitzen. Mein Entschluss stand fest. Ich zog mir Sachen über und schlich leise durch die Wohnung. Vorsichtig schloss ich die Haustür von außen und einige Sekunden später stand ich in der kalten Nachtluft. Ich ging mit zügigen Schritten los. Der Weg kam mir endlos lang vor, obwohl er das gar nicht war. Unterwegs traf ich nicht einen Menschen. Alles war still. Nur eine Katze huschte schnell über die Straße. Je näher ich meinem Ziel kam desto schneller klopfte mein Herz.

Dann stand ich vor einem Wohnhaus und blickte nach oben. Es brannte noch schwaches Licht. Ich klingelte und niemand meldete sich. Vielleicht schläft sie ja doch? Ich wollte mich gerade umdrehen und mich über meine Dummheit ärgern, da fragte Helene an der Türsprechanlage zögerlich: »Hallo?« Schnell erwiderte ich: »Ich bin es, Hanna.« Eine Sekunde verging, dann hörte ich das Surren und die Tür ließ sich öffnen. Ich lief die Treppen nach oben und Helene stand mit Bademantel an der Tür und sah mich verwundert an. »Was machst du denn hier?«, wollte sie wissen, aber ich kam nicht dazu, ihr zu antworten. Sie hatte mich schon geküsst. Sie zog mich in die Wohnung und wir schlossen die Haustür. Eine ganze Weile standen wir im Flur und küssten uns einfach nur. Dann lösten sich unsere Lippen voneinander. »Ich habe dich so vermisst«, flüsterte ich ihr zu und sie lachte leise auf. »Und da dachtest du, du kommst mitten in der Nacht zu mir?« Ich zuckte mit den Achseln. »Ich dachte, es wäre eine gute Idee.« Sie gab mir wieder einen Kuss. »Oh, ja. Eine ganz wunderbare Idee.« Dann ging alles ganz schnell.

Sie zog mich in ihr Schlafzimmer und ließ ihren Bademantel fallen. Erstaunt sah ich sie an. Helene war splitternackt. »Schläfst du nackt?«, fragte ich sie und sie lachte. »Manchmal schon. Es kommt auf die Umstände an, aber heute zahlt es sich ja aus.« Sie kam auf mich zu und stieß mich sanft ins Kissen. Ich wagte einen Blick zur Seite. Sie musste gelesen haben, denn ihr Nachtlicht brannte und ein Buch lag verkehrt herum auf der Ablagefläche. Dann setzte sie sich auf mich. »Bist du deshalb gekommen?«, wollte sie wissen und ich schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Ich wollte dich nur sehen, aber wenn ich schon mal hier bin.« Ich grinste sie schelmisch an. Danach sprachen wir nicht mehr miteinander. Sie zog mich aus und küsste mich. Immer wieder. An vielen verschiedenen Stellen. Ich krallte mich ins Bettlaken, als sie mit ihrem Kopf unter der Bettdecke verschwand. Meine Atmung war ungleichmäßig. Ich spürte ihre Zunge und merkte, dass sie genau das Richtige damit tat.

Dann zog ich sie wieder nach oben und tauschte die Position mit ihr. Sie stöhnte laut und das gefiel mir. Mir gefiel, was sie mit mir anstellte, wenn sie selbst erregt war. Kurze Zeit später kamen wir beide zum Höhepunkt. Es war wieder unbeschreiblich. Wir kuschelten uns aneinander. Ich genoss den Moment, denn ich wusste, dass ich bald zurück nach Hause musste. Ich küsste ihren Kopf und atmete ihren Duft tief ein. Sie roch so unwahrscheinlich gut. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es mittlerweile 02:34 Uhr war. Ich räusperte mich. Helene wusste genau, was ich nun sagen würde. Sie seufzte. »Ich weiß. Du musst los.« Traurig nickte ich. »Ja, leider schon.« Ich rückte von ihr ab und sammelte meine Sachen zusammen. »Aber es war sehr schön mit dir. Wie immer.« Ein Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus.

»Bis dann«, hauchte ich ihr zu und gab ihr einen letzten Kuss. Sie hielt meinen Arm fest. »Willst du nicht vielleicht doch bleiben?« Ihr Blick hatte einen traurigen und flehenden Ausdruck, aber ich schüttelte entschieden den Kopf. »Ich kann nicht.« Sie wandte den Blick ab. »Ja, ich weiß. Schon gut.« Ich wusste, wie sie sich fühlte. Ich wollte nicht los, aber es ging nicht anders. Jette war zu Hause und würde nur Fragen stellen, wenn sie aufwachte und mein Bett verlassen vorfand. Ich verließ ihre Wohnung und es brach mir das Herz.

Als ich wieder zu Hause war, ging ich direkt ins Bett. Der Gedanke, von ihr getrennt zu sein, gefiel mir nicht. Aber ich hatte Hoffnung. Irgendwann würden wir jeden Abend zusammen einschlafen können, oder? Wenn sich erst einmal alles geklärt hatte. Mit diesen Gedanken schlief ich ein.

Am nächsten Tag starteten wir am frühen Nachmittag. Wir brauchten nicht allzu lange, dann waren wir auch schon da. Wir fuhren auf einen öffentlichen Parkplatz, der nicht weit vom Strand entfernt war. Es war etwas windig, aber das war in Ordnung. Da waren wir hier weitaus Schlimmeres gewohnt. Wir gingen durch die Straßen und überall sah man Ferienwohnungen oder Ferienhäuser. Viele der Häuser hatten Reetdächer. Im Sommer lebte der Ort von Touristen, in der Nebensaison war es hier eher still, aber trotzdem wunderschön. Dann erreichten wir den Strandaufgang und gingen ans Wasser. Wir waren direkt  an der Ostsee. Ich blieb stehen und schloss die Augen. Ich liebte das Meer und lauschte dem Wellenrauschen. Das stimmte mich immer zufrieden. Einige andere Menschen waren unterwegs, aber das Menschenaufkommen hielt sich in Grenzen. Wir liefen eine ganze Weile am Wasser entlang und gingen auch auf die Seebrücke und schossen ein paar Fotos. »Mama? Ich habe mir schon ein Café ausgesucht. Das hat normalerweise sonntags gar nicht geöffnet, aber heute irgendwie schon. Mir wäre etwas nach Aufwärmen und da gibt es hausgebackenen Kuchen.« Ich stimmte ihr zu und ließ mich führen.

Als wir das Café betraten, kam mir sofort Wärme entgegen. Ich hörte das Knistern eines Kamins. Ich schaute mich um. Es sah echt gemütlich aus. »Wow, das hast du gut ausgesucht«, sagte ich an Jette gewandt und sie strahlte mich an. Die Kellnerin wies uns einen Platz zu und ich zog meine Jacke aus. Das Café war nicht sehr groß, deshalb kam mir das Lachen, welches den Raum füllte, bekannt vor. Ich ging um eine kleine Ecke und traute meinen Augen kaum. Dort stand Helene und zog gerade ihre Jacke an. Sie war nicht alleine. Herr Meyer war bei ihr. Auch Jette sah sie und ihn und ihr entfuhr ein geschocktes: »Oh!« In diesem Moment sah Helene in meine Richtung und unsere Blicke trafen sich.

Herzgeflüster || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt