Kapitel 27

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Am nächsten Morgen fühlte ich mich wie überfahren. Ich musste wieder ins Büro. Meine Motivation hielt sich in Grenzen. Am Frühstückstisch war es still. »Ich muss dich um etwas bitten.« Jette horchte auf. »Wenn du Herrn Meyer heute siehst, dann sei bitte ganz normal. Er darf keinen Verdacht schöpfen.« Sie nickte langsam. »Ich versuche es.« Ich flüsterte: »Danke. Ich fahre dich heute auch zur Schule.«

Als ich Jette mit einem unguten Gefühl im Bauch abgesetzt hatte, fuhr ich ins Büro. Ich hatte viel Arbeit, die mich etwas ablenkte, doch trotzdem musste ich die ganze Zeit an den heutigen Abend denken. Sie waren zwar an einem öffentlichen Ort, aber ich hatte trotzdem Bauchschmerzen bei der ganzen Sache. Ich machte an diesem Tag pünktlich Feierabend und fuhr schnell nach Hause. Jette war in ihrem Zimmer. Ich klopfte an. »Ja?«, fragte sie zaghaft und als ich den Raum betrat, sah ich, dass sie geweint hatte. »Ach, mein Schatz«, sagte ich liebevoll und ging auf sie zu. »Wir bekommen das alles wieder hin. Ich weiß, dass es schwer ist.« Sie schnaufte. »Weißt du, das Problem ist nicht mal, dass ich so in ihn verliebt war. Das Problem ist, dass ich so dumm war und ihm wirklich ein Nacktfoto geschickt habe. Ich habe nicht eine Sekunde an die Konsequenzen gedacht. Aber eine gute Sache hat diese Aktion: Ich kann mir diesen Blödmann endlich aus dem Kopf schlagen. Ich bin so sauer. Die Sache hat mir echt die Augen geöffnet.«

Ich drückte ihr einen Kuss auf den Kopf. »Ich werde jetzt mal Helene anrufen.« Dann ging ich ins Wohnzimmer und es klingelte nur zweimal, dann nahm sie direkt ab. »Bist du dir wirklich sicher, dass du das durchziehen willst?« Sie antwortete: »Natürlich bin ich mir sicher. Ich habe heute mit ihm gesprochen in der Schule. Wir treffen uns nicht im Café, sondern in einer Bar. Du weißt schon. In der Bar, in der wir uns beide mal getroffen haben.« Ich wusste ganz genau, von welcher Bar sie sprach. Da hatte ich sie mit Herrn Meyer gesehen, als ich mit meinen Freundinnen feiern war. Meine Freundinnen – ich musste mich unbedingt mal wieder melden. Und ihnen natürlich bald von Helene und mir erzählen. »Ok«, brachte ich hervor. »Wann trefft ihr euch?« Sie erwiderte: »Um 20 Uhr.«

Ich sagte ihr, dass ich vor der Bar im Auto sitzen würde, wenn etwas passieren sollte. Sie sollte mich anrufen. Dann legten wir auf. »Mama?«, riss Jette mich aus meinen Gedanken. Verwirrt sah ich sie an. »Ja?« Leise, aber bestimmt, sagte sie: »Ich werde mitkommen. Es ist mir egal, was du davon hältst. Aber ich möchte mit dir zusammen warten. Ich kann nicht zu Hause sitzen.« Ich wollte nicht mit ihr diskutieren, deshalb sagte ich: »In Ordnung.« Erstaunt sah sie mich an. Sie hatte wahrscheinlich mit mehr Widerstand gerechnet, aber ich war dafür jetzt nicht in Stimmung. »Um 19:30 Uhr fahren wir hier los.«

Je später es wurde desto nervöser wurde ich. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was passieren konnte. Jette kam pünktlich aus ihrem Zimmer und wir fuhren los. Ich suchte einen Parkplatz etwas abseits, aber trotzdem mit gutem Blick auf die Tür. Wir standen eine Weile, dann kam Helene mit Herrn Meyer. Er hatte sein Auto in unserem Blickfeld geparkt. Am liebsten wäre ich ausgestiegen und hätte ihn krankenhausreif geprügelt, aber ich musste mich beherrschen. Er hielt ihr die Tür auf mit seinem »Lockart« Grinsen, welches ich so hasste. Ich empfand nur noch Verabscheuung, Ekel und Hass für ihn. Dabei berührte er zufällig ihre Taille. Helene spielte ihre Rolle echt gut. Es sah echt aus. Dann waren sie in der Bar verschwunden.

Wir lehnten uns beide zurück. »Jetzt müssen wir abwarten und immer die Tür im Auge behalten.« Ich schaltete das Radio an. Die Stille war unerträglich. 48 Minuten passierte nichts. Dann erhielt ich eine Nachricht von Helene. »Er ist auf der Toilette, aber er hat sein Handy dabei. Ich denke aber, er schöpft keinen Verdacht.« Ich las Jette die Nachricht vor und sie rollte mit den Augen. »Scheiße, was machen wir denn jetzt?« Ich wusste es nicht. »Wir warten erst einmal ab. Vielleicht bekommt sie noch eine Chance.« Ich glaubte es mir selbst nicht, aber ich wollte Jette etwas Hoffnung geben. Das Warten war anstrengend. Es fühlte sich an, als würde man wochenlang auf ein wichtiges Prüfungsergebnis warten, welches darüber entschied, ob man seinen Abschluss erhalten würde oder nicht. Nein, eigentlich war das kein Vergleich. Das hier fühlte sich viel schlimmer an. Ich biss auf meiner Lippe umher. Wie lange würden sie bleiben?

Mittlerweile war es nach 22 Uhr und ich wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser. Jette schlug sich tapfer. Sie beschwerte sich nicht ein einziges Mal. Ich checkte meine Nachrichten, dann stieß Jette plötzlich aus: »Da sind sie!« Sofort sah ich auf. Was taten sie da? Sie verließen Hand in Hand die Bar und sie strahlte über das ganze Gesicht. Hätte ich nicht gewusst, dass das alles nur Show war, dann hätte ich geglaubt, sie wären ein frisch verliebtes Paar. Ich hatte sein Auto gut im Blick. Sie gingen darauf zu. Wohin wollte sie? Darüber hatten wir doch nicht gesprochen? Er kam ihr gefährlich nah. Dann küsste er sie und drückte sie an das Auto. »So ein Schwein«, entfuhr es mir und ich schnallte mich ab. Ich wollte die Tür öffnen, doch Jette hielt mich zurück.

»Mama, nicht. Ich weiß, dass der Anblick nur schwer zu ertragen ist, aber das ist alles nur gespielt.« Sie hatte recht. Doch trotzdem überkam mich wieder dieser abgrundtiefe Hass. Ich wollte ihm ins Gesicht schlagen. Ihm seine Augen auskratzen. Dann hielt er ihr die Tür auf und sie stieg ein. Meine Alarmglocken gingen an. Ich verstand es nicht. »Scheiße, was macht sie da?« Sein Auto setzte sich in Bewegung. Ich schaltete den Motor an und fuhr ihnen langsam nach. »Helene hat eine Nachricht geschickt«, sprudelte es plötzlich aus Jettes Mund. »Was? Was schreibt sie? Lies vor«, meinte ich aufgeregt und sie las vor: »Wir fahren zu ihm nach Hause. Er denkt, wir werden jetzt Spaß haben, aber ich werde ihm dort das Handy entwenden und fliehen. Steht vor der Tür bereit, ich werde ins Auto springen. Wenn ich in spätestens 30 Minuten nicht unten bin, dann kommt klingeln.«

Meine Augen füllten sich mit Tränen. »Warum macht sie das?« Es war eher als rhetorische Frage gemeint, aber Jette antwortete: »Sie macht es für dich.« Ich fühlte mich, als wäre ich in einem schlechten Film gefangen. Aber das war die knallharte Realität. Was war, wenn sie sich nicht wehren konnte? Mein Magen drehte sich um. Daran wollte ich nicht denken. Was sollte ich tun? Mein Kopf war so voll, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wir hielten einen großen Abstand. Jette wusste, wo er wohnte. Als wir vor seiner Tür standen, waren sie bereits in seiner Wohnung. »Da oben«, meinte Jette und zeigte auf ein Fenster im zweiten Stock. »Da wohnt er.« Ich fixierte meinen Blick auf das Fenster. Ich hatte Hoffnung, irgendetwas zu sehen, aber seine Gardinen waren zugezogen. Man konnte nur das Licht dahinter erkennen. »Wenn sie nicht in genau 30 Minuten draußen ist, dann rufe ich die Polizei oder trete seine Tür ein.« Ich hatte Panik. Jede Minute fühlte sich endlos lang an. »Fünf Minuten noch«, flüsterte ich mit zittriger und brüchiger Stimme. »Verdammt, warum kommt sie denn nicht?«

»Sie wird sicher gleich kommen«, versuchte Jette, mir Mut zu machen. Aber ihre Stimme verriet mir, dass auch sie Angst hatte. Es hatte sich alles anders entwickelt als gedacht. Ich schloss die Augen. Hatte mein Handy schon griffbereit. Gab »110« ein. »Zwei Minuten noch.« Ich wurde ganz hibbelig. Dann war die Zeit vorbei. Ich wartete noch einige Sekunden, aber wollte keine Zeit mehr verlieren. Ich wählte die Nummer der Polizei und mein Herz rutschte mir in die Hose.

Herzgeflüster || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt