Kapitel 4

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Am nächsten Tag erwachte ich tatsächlich vor dem Wecker. Es war Donnerstag, das bedeutete, dass ich nur noch heute und morgen arbeiten musste, dann konnte ich mein Wochenende genießen. Ach, ich war ja ganz alleine, fiel mir ein. Jette war bei ihrem Papa. Vielleicht sollte ich mit meinen Freundinnen mal wieder ausgehen. Ich schrieb direkt in den Gruppenchat bei WhatsApp. Im Laufe des Tages würden sich schon alle melden. Dann stand ich auf, ging auf die Toilette und anschließend in die Küche. Ich machte mir einen Kaffee und bereitete das Frühstück vor. Als gerade alles fertig aufgetischt war, hörte ich, wie Jette aus ihrem Zimmer ins Bad schlich. Danach kam sie in die Küche. Sie sah ganz mitgenommen aus.

»Guten Morgen«, begrüßte ich sie. Ich wollte irgendetwas tun oder sagen, aber ich wusste nicht, was. »Morgen«, murmelte sie zurück. Wir frühstückten still und wechselten kaum ein Wort miteinander. »Muss ich heute zur Schule gehen?«, brach sie die Stille. Was sollte ich sagen? »Ja, natürlich musst du das. Oder ist es wegen der Prügelei?«, wollte ich wissen. »Ach, vergiss es. Schon gut.« Dann ließ sie ihr angebissenes Brötchen liegen und ging in ihr Zimmer, um sich anzuziehen. Was war denn nur los mit ihr? Auch ich machte mich fertig.

»Ich bin dann mal weg«, rief sie mir zu. »Jette, warte mal bitte. Ich glaube, wir sollten uns noch einmal unterhalten. Vielleicht nicht jetzt, aber heute Abend, ok?« Widerwillig nickte sie. »Ich fahre dich zur Schule«, bestimmte ich und sie stöhnte laut auf. »Muss das sein?«, jammerte sie. »Ja.« Damit war die Diskussion beendet. Ich wollte nur sicher gehen, dass sie auch wirklich in der Schule ankam. Dann fuhren wir los. Ich ließ sie direkt vor der Schule raus und Paula, ihre sonst beste Freundin, beachtete Jette gar nicht. Und Jette ging an ihr vorbei. Komisch, dachte ich. Dann klingelte es und alle liefen in das Schulgebäude. Ich parkte mein Auto einige Meter weiter und betrat ebenfalls das Gebäude. Vielleicht hatte ich Glück und konnte Frau Sturm noch abpassen.

Und tatsächlich – auf dem Weg zum Klassenzimmer kam sie mir lächelnd entgegen. »Oh, Frau Rabsch. Wollen Sie zu mir?« Ich nickte und sie gab mir die Hand. Ein warmer Schauer fuhr mir über den Rücken. »Haben Sie vielleicht 2 Minuten Zeit für mich? Oder ist es gerade schlecht?« Sie überlegte. »Nein, es passt. Moment.« Dann öffnete sie die Tür und rief in den Raum, dass sie gleich da sein würde. Die Klasse freute sich natürlich, dass der Unterricht später startete. Wir gingen in ein leeres Klassenzimmer zwei Türen weiter.

»Was kann ich für Sie tun? Konnten sie mit Jette sprechen?«, fragte sie interessiert und ich wusste, dass das Interesse echt war. »Ja, nein. Also schon. Aber sie hat nicht viel gesagt. Es geht wohl um einen Jungen, aber um welchen genau, wollte sie mir nicht verraten. Aber mir ist gerade noch eine Sache aufgefallen. Paula und Jette sind schon ewig beste Freundinnen und als ich sie absetzte vor der Schule, ignorierten die beiden sich. Wissen Sie da mehr?« Sie riss die Augen auf. »Oh! Wussten Sie nicht, dass die Prügelei zwischen Paula und Jette stattgefunden hat?« Was erzählte Frau Sturm da? »Wie bitte? Nein, ich wusste das nicht. Halten Sie es für möglich, dass sich beide Mädchen in den gleichen Jungen verliebt haben?« Sie überlegte. »Das könnte natürlich sein. Das passiert in diesem Alter doch oft, dass sich zwei Freundinnen in den gleichen Jungen verlieben.« Ich nickte bestätigend.

»Falls Ihnen etwas auffällt, bitte melden Sie sich bei mir. Ich möchte auch nicht wie eine überfürsorgliche Mutter wirken, aber ich mache mir nur Sorgen.« Frau Sturm nickte mit dem Kopf und erwiderte: »Selbstverständlich, das verstehe ich.« Dann kam mir die Idee. »Moment, ich gebe Ihnen mal meine Handynummer. Dann können Sie sich direkt melden und müssen nichts ins Hausaufgabenheft eintragen.« Ich schrieb sie ihr auf und sie steckte die Nummer in ihre Unterlagen. Dann verließen wir den Raum und schüttelten uns wieder die Hände. »Machen Sie es gut.« Sie betrat den Unterricht und ich blieb noch eine Weile vor der Tür stehen und lauschte dem Klang ihrer Stimme. Plötzlich wurde ich aus meinen Träumereien gerissen.

»Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?« Ein gutaussehender Mann strahlte mich an. Er war etwa in meinem Alter. »Oh, nein. Ich habe nur gerade mit Frau Sturm gesprochen.« Als ich ihren Namen erwähnte, wurde er hellhörig und strahlte noch mehr. »Ach, die gute Frau Sturm. Diese Art von Kollegen mag ich gern. Ich bin übrigens Herr Meyer. Ich unterrichte Sport und Biologie hier an der Schule.« Ich musste schmunzeln. Ich hatte mir schon gedacht, dass er viel Sport machte, so wie er aussah. »Ich bin Hanna Rabsch. Vielleicht kennen Sie meine Tochter Jette.« Sofort antwortete er: »Klar, sie ist eine meiner besten Schülerinnen. Gibt sich wirklich immer viel Mühe und ist immer vorbereitet. Ich unterrichte beide Fächer in ihrer Klasse.« Sprach er gerade von meiner Tochter? Nicht, dass sie schlecht in der Schule war, aber es überraschte mich trotzdem. »Das klingt toll. Schön, dass ich Sie auch einmal kennenlernen durfte, aber nun muss ich wirklich los. Das Büro ruft.« Wir verabschiedeten uns voneinander und in diesem Moment hörte ich Frau Sturm laut auflachen. Ich dachte schon, Herr Meyer konnte nicht noch mehr strahlen, aber er bewies mir das Gegenteil und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er Frau Sturm ganz toll fand.

Dann fuhr ich zur Arbeit und hatte ein Vorstellungsgespräch am frühen Nachmittag. Eine junge Frau hatte sich beworben und sie machte einen sehr seriösen Eindruck. Wir machten direkt einen Probetag aus und ich hatte Hoffnung, dass es mit ihr klappen würde. Endlich. Ich hatte wirklich lange gesucht, aber am Ende lohnte sich das Warten doch, oder?

An diesem Tag machte ich wieder früher Schluss und suchte das Gespräch mit Jette. Sie lag auf ihrem Bett und hörte Musik. Als ich das Zimmer betrat, nahm sie die Kopfhörer aus den Ohren und wischte sich schnell eine Träne weg. »Du bist schon zu Hause?«, fragte sie ertappt und ich nickte. »Ja, ich wollte mit dir reden. Was war das heute morgen mit Paula? Habt ihr Stress?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, alles gut zwischen uns.« Ich zog die Augenbrauen nach oben. »So gut, dass ihr beide euch prügelt?« Sie sah nach unten. »Seid ihr beide in den gleichen Jungen verliebt?« Entrüstet sah sie mich an und ich wusste, dass ich richtig lag. Ihr Blick hatte es mir verraten.

»Mama, ich möchte jetzt nicht darüber sprechen, ok? Ich bin müde und möchte gern ein bisschen schlafen.« Ich wollte sie nicht dazu zwingen, mit mir zu sprechen. Sie sollte es tun, wenn sie bereit dazu war. Ich stand auf. Ich setzte an und wollte ihr gerade erzählen, dass ich ihren Sportlehrer heute kennengelernt hatte, dann fiel mir auf, dass sie gar nicht wusste, dass ich mit Frau Sturm gesprochen hatte und in der Schule war. Und es war besser so, wenn sie davon nichts erfuhr.

Ich ging in die Küche und setzte Wasser für meinen Tee auf, da vibrierte mein Handy. Die Mädels hatten sich gemeldet. Wir würden am Samstag ausgehen. Ich freute mich sehr darauf. Endlich mal wieder etwas essen und trinken und dann zusammen tanzen gehen. Als ich das Handy gerade zur Seite legen wollte, vibrierte es erneut. Ich sah auf das Display und eine Nachricht von einer Nummer wurde mir angezeigt. Ich klickte sie an und las.

»Hallo Frau Rabsch, hier ist Helene Sturm. Ich dachte mir, ich schreibe Ihnen diese Nachricht, dann haben Sie meine Nummer auch. Einen schönen Abend noch. Bis bald.«

Ich fügte ihre Nummer zu meinen Kontakten hinzu und dann konnte ich ihr Profilbild sehen. Sie stand bei einem Konzert in der ersten Reihe und sah einfach nur glücklich aus. Sie lachte in die Kamera und ich ertappte mich selbst dabei, wie ich das Foto ungefähr fünf Minuten anstarrte.

Herzgeflüster || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt