Lestrade öffnete die Tür. Gary Norton lag auf dem Fußboden, so, als wäre er gerade umgefallen. John machte sich sofort daran, die Leiche zu untersuchen.

„Er ist...vor etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten gestorben. Er hat etwas im Mund...sieht aus wie Brot!“

Der Mund der Leiche war leicht geöffnet und man konnte Speisereste erkennen.

„Ja. Er hat um diese Uhrzeit immer gerne einen kleinen Snack zu sich genommen.“, sagte jemand am Fenster. Auf den ersten Blick sah sie aus wie Penelope, aber dann fiel auf, dass sie viel jünger war, außerdem war sie auffallend hübsch.

„Ich bin Elizabeth, die dritte Schwester. Ich kam gerade von meiner Schicht als Krankenpflegerin, deshalb bin ich jetzt erst hier.“

„Sie klingen erstaunlich gefasst für jemanden, deren Brüder soeben ermordet wurden.“

„Ach, wissen Sie, Herr Inspektor, wir hatten sowieso kein gutes Verhältnis zueinander. Ich wäre sowieso bald hier ausgezogen und hätte mir eine eigene Wohnung gesucht.“ Sie lächelte und jetzt sah sie zum ersten Mal etwas traurig aus, denn ihre Augen lächelten nicht mit und waren voller Bitterkeit.

Sherlock kniete sich neben John und besah sich die Leiche. Er untersuchte die Fingerspitzen; lächelte und ging zum Nachttisch, wo ein Teller mit Krümeln darauf abgestellt war.

„Sehr interessant“, murmelte er.

„Was denn? Haben Sie etwa herausgefunden, wie er ermordet wurde?“

„Ja, weitesgehend schon.“

„Weitesgehend?“

„Sehen Sie mal. Er starb, während er gegessen hat. Aber in seinem Essen war offenkundig kein Gift, denn das hätten Sie bemerkt. Dass er vergiftet wurde, ist aber offensichtlich. Und er hatte eine Angewohnheit, die ihm zum Verhängnis wurde: Er leckte sich immer die Krümel von den Fingerspitzen. Also war mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Gift an seinen Fingerspitzen, da diese noch feucht sind und er noch Essen im Mund hat. Das Gift muss er irgendwo vorher aufgenommen haben, wahrscheinlich ist eine kleine Menge auf dem Tellerrand dort.

Es kann ihn also nur jemand ermordet haben, der seine Gewohnheiten kannte, und jemand, der kein Alibi hat. Wer brachte ihm das Brot?“

„Das Hausmädchen, nehme ich an.“, sagte Elizabeth. „Oder Mr. Jones, manchmal auch Alice.“

„Hmm..“, Sherlock sah zu Lestrade, und dieser nickte.

„Alice und Mr. Jones können wir ausschließen, da wir Mr. Jones überwacht haben und Alice die ganze Zeit bei einer Polizistin war, die ihre Aussage aufgenommen hat. Kommt also nur das Hausmädchen infrage. Wer ist das?“

„Ich werde sie holen.“, sagte Donovan und ging hinaus.

„Glauben Sie, dass es das Hausmädchen war?“, flüsterte John zu Sherlock.

„Nein. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es der Butler war. Und ich werde es auch beweisen.“

Plötzlich stöhnte jemand vom Fenster her und alle wandten ruckartig den Kopf. Elizabeth Norton presste sich die Hand an die Stirn und hatte die Augen geschlossen.

„Entschuldigen Sie...das alles ist vielleicht doch etwas viel gewesen.“

„Das macht nichts.“, antwortete Lestrade. „Kann irgendjemand Ms Norton hinausbringen?“

„Ich mache das.“, bot John an, ging zu der Frau, nahm sie beim Arm und führte sie hinaus.

„Sind Sie auch Detektiv?“, fragte sie, während sie langsam den Flur entlang zur Treppe schritten.

„Na ja, ich bin eher Arzt.“, sagte John gespielt verlegen.

„Ah! Dann müssen Sie Dr. Watson sein. Ich liebe ihren Blog.“

„Danke sehr.“

„Können wir vielleicht in den Salon gehen? Dann kann ich etwas Wasser trinken.“

„Sie brauchen jetzt vor allem ein wenig Ruhe.“, ordnete John an. „Haben Sie eine Hausapotheke oder etwas Ähnliches?“

„Ja, ebenfalls im Salon.“

Als sie dort ankamen, setzte Elizabeth sich erschöpft auf einen Stuhl. John lief zur Anrichte, auf der ein Krug mit Wasser stand, schüttete ihr etwas in ein Glas und stellte es ihr hin. Dann schaute er in der Hausapotheke nach, ob es etwas zur Beruhigung gab. Er fand ein paar Tabletten, nahm eine heraus und setzte sich neben Elizabeth.

„Hier, das wird Ihnen helfen.“

Elizabeth lächelte matt und schluckte die Tablette.

„Wissen Sie, Dr. Watson, am Ende fehlt einem die Familie ja doch.“

„Hatten Sie kein gutes Verhältnis zu Ihrer Familie?“

„Ich bin die mittlere Schwester; Nur eines von sieben Kindern. Mein Vater hat Alice abgöttisch geliebt, uns andere hat er oft mit ihr verglichen und gesagt: 'Nehmt euch ein Beispiel an Alice.' Sie ist die einzige, die sich für Vögel interessiert. Eine Träumerin. Wir anderen haben uns längst Dingen zugewandt, mit denen wir eine Zukunft haben.“

„Und Ihre Geschwister?“

„Ach...Penelope und ich, wir kommen eigentlich sehr gut miteinander aus. Unsere drei ältesten Brüder George, Gary und William haben zusammen eine Bank und interessieren sich nur dafür; James, der jüngste Bruder, ist ein Dummkopf. Er ist längst verheiratet und arbeitet irgendwo als Buchhalter. Mein Vater hat ihn kaum mit Geld unterstützt; mich würde nicht wundern, wenn das ganze Erbe sowieso Alice zufiele. Außer unserem Pflichtanteil natürlich.“

„Wurde das Testament schon gefunden?“

„Nein, das ist ja das Merkwürdige an der ganzen Sache. Fast direkt nach dem Tod haben George und Gary das ganze Haus auf den Kopf gestellt, um es zu finden. Aber es ist und bleibt spurlos verschwunden.“, sagte Elizabeth und nippte an ihrem Glas.

„Ich möchte ja nicht taktlos sein....aber haben Sie heute Abend schon etwas vor?“, erkundigte sich John.

„Nein.“, lächelte Elizabeth. „Sie?“

„Hätten Sie Lust, ins Kino zu gehen?“

„Sehr gerne.“

„Ich hole Sie dann so gegen 19 Uhr ab. Sie müssen ein wenig hier raus.“

„In Ordnung.“

John erhob sich und ging hinaus und zurück nach oben, aber mit einem Lächeln auf den Lippen. Das war sein erstes Date seit Langem. 

Sherlock - I have only one friendWhere stories live. Discover now