Durch den Zaun in die Küche

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Sherlock lief zurück in den Garten. Mittlerweile war es mittags und die Sonne stand hoch am Himmel – trotzdem wurde es nicht wärmer. Der Schnee glitzerte durch die Sonnenstrahlen und ließ alles unschuldig aussehen, so als hätte hier nie ein Mord stattgefunden.

Der Detektiv ging an den Polizisten, die draußen standen und diskutierten, vorbei und verließ das Grundstück. John folgte ihm und wich Lestrade aus, der ihn abfangen wollte.

„Also wenn Penelope die Wahrheit sagt, kann eigentlich nur der Butler als Täter infrage kommen. Es passt alles zusammen.“

„Ja.“, bestätigte Sherlock. „Aber um ganz sicherzugehen, muss ich noch einmal in die Küche.“

„Wir haben soeben das Grundstück verlassen.“

„Der Mörder soll sich in Sicherheit wiegen. Ich habe schon seit heute Morgen das Gefühl, uns würde jemand beobachten. Wie es aussieht, lag ich damit gar nicht so falsch.“

„....und was machen wir jetzt?“

Sherlock lief an dem Zaun entlang. „Dort!“, er zeigte auf ein kleines Loch im Zaun.

„Wir schaffen es doch niemals, da durchzukriechen. Da hätten schon einige Kinder Probleme mit.“, warf John ein. Sherlock ignorierte ihn mal wieder und legte sich auf den Bauch in den Schnee. Dann begann er, sich durch das Loch zu schieben, oder besser, zu quetschen. John beobachtete ihn halb belustigt, halb genervt. Denn irgendwann kam: „John, helfen Sie mir mal. Ich stecke fest.“

Der Angesprochene seufzte. „Hatte ich Ihnen das nicht vorhin erst prophezeit?“

Sherlock antwortete nicht. John hockte sich neben ihn und schaute sich das Problem an. Er war schon mit dem Kopf durch, aber die Schultern des Detektivs waren einfach zu breit.

„Ach, und wie soll ich Ihnen jetzt helfen?“

„Sie – könnten – mich – einfach – schieben!“, ächzte Sherlock, während er weiterhin versuchte, sich durch das viel zu enge Loch zu quetschen.

John verdrehte die Augen; wo sollte er ihn denn bitte anschieben? Ein wenig unbeholfen packte der Doktor ihn an den Fußknöcheln und schob.

„Nicht so grob!“, rief Sherlock. Allmählich wurde John die Absurdität dieser Situation bewusst; er begann zu kichern. „Sherlock, wissen Sie eigentlich, wie das aussieht?“

„Es ist mir egal wie das aussieht! Jetzt schieben Sie gefälligst!“, meckerte er nur; John schmunzelte.

„Wo soll ich Ihnen denn bitte helfen?“

„....lassen Sie sich was einfallen. Sie sehen doch alles, und ich ausnahmsweise mal nicht. Da sieht man mal wieder, dass ich besser die Kontrolle hätte.“

Seufzend richtete der Doktor sich auf. 'Der Zaun ist leider zu hoch zum darüber klettern; aber möglicherweise gibt es in der Nähe eine Leiter oder etwas Ähnliches', dachte John.

„Moment, Sherlock, ich bin sofort wieder da!“ Er lief den Zaun entlang, hörte noch einen Protest von Sherlock.

'Wieso, wieso konnte er nicht einfach wieder durch die Haustür gehen oder zumindest ÜBER den Zaun klettern, anstatt darunter? Aber so war Sherlock eben. Und wahrscheinlich hatte das einen Grund.', John merkte, dass er sich mittlerweile an die Eigenheiten seines Mitbewohners gewöhnt hatte.

Auf einmal sah er rechts eine alte, verrostete Leiter. Er lehnte sie an den Zaun und kletterte vorsichtig darauf. Sie ächzte und knarzte bei jeder Bewegung; die Sprossen bogen sich bedenklich. Als er die letzte Sprosse betrat und auf den Zaun klettern wollte, gab die Leiter ihren Geist auf und krachte mit einem lauten Scheppern in sich zusammen.

Jetzt begriff John, wieso Sherlock unbedingt an dieser Stelle zurück auf das Grundstück wollte: Dort waren die Tannen und anderen Bäume nicht ganz so dicht wie hier. Außerdem war an der Stelle, wo Sherlock im Zaun eingeklemmt lag, eine kleine Erhebung. An Johns Stelle war der Boden an der Seite des Grundstücks tiefer; er nahm all seinen Mut zusammen und sprang in den Schnee.

Es waren bestimmt drei Meter, aber der Schnee dämpfte seinen Aufprall und er kam mühsam auf die Beine. Schnell lief John zurück zu Sherlock, diesmal konnte er nur den Kopf und die Arme des Detektivs sehen.

„Wieso haben Sie die Leiter kaputt gemacht, John?“, fragte er vorwurfsvoll.

'War ja klar, dass er das – wie sonst auch – irgendwo gesehen hatte. Vielleicht an meinen Manteltaschen oder an den Schuhen.', dachte der Doktor.

„Ich wollte Ihnen helfen, durch den Zaun zu kommen. Aber wissen Sie was: Ich gucke selbst nach den Kapseln. Bis später!“, grinsend schlenderte er Richtung Haus.

„Nein, warten Sie!“, rief Sherlock. Langsam drehte John sich um. „Was denn noch?“, fragte er unschuldig.

„Sie können mich doch nicht einfach hier liegen lassen!“

„Wieso? Sie bekommen doch sonst auch alles alleine hin! Da dürfte so ein kleiner, mickriger Zaun doch kein Hindernis sein.“

„....bitte, John.“

„Haben Sie etwa gerade bitte gesagt?“

„......ja.“ Der Doktor erbarmte sich, lief zu dem Detektiv, packte ihn an den Handgelenken und zog, bis er sich selbst befreien konnte. Er stand auf und klopfte sich den Schnee von seinem Mantel.

„Ich musste etwas testen, John.“, sagte er zu diesem in nüchternem Ton, aber der Kleinere sah, dass die Wangen des Detektivs einen rötlichen Schimmer hatten.

„Alles klar. Gehen wir?“, John lachte in sich hinein.

Sie schlichen im Schutz der Tannen zum Haus, bis sie zum hinteren Kücheneingang kamen. Sherlock knackte das Türschloss und sie standen in einer altmodischen Küche. Zum Glück war niemand außer ihnen hier.

Der Detektiv ging zielstrebig zum größten Schrank der Küche und öffnete alle Türen, bis er das Gesuchte ausfindig gemacht hatte. Triumphierend zeigte er seinem Mitbewohner zwei Schachteln. In beiden waren Pillen. Sherlock drückte aus jeder Packung eine Pille heraus. Sie waren von außen identisch: beide länglich, schmal und silbern. Sherlock untersuchte die Kapsel, die er aus der Zyankali – Schachtel genommen hatte. Diese war nicht beschriftet, während auf der anderen Opipramol stand.

„Aha!“, flüsterte er. „Sehen Sie, John: Diese Kapsel ist eine Opipramol – Pille, während die aus der Opipramol Schachtel eine Zyankali Kapsel ist. Hier hat jemand gute Arbeit geleistet.“

„Also hat er die Kapseln vertauscht?“

„Ja. Er wusste, dass man ihn ansonsten verdächtigen würde, und deshalb hat er dafür gesorgt, dass Penelope verdächtigt würde. Er wusste, sie würde die Kapseln sozusagen 'rücktauschen' und das wurde ihr zum Verhängnis.“

„Sehr richtig.“, erschrocken drehten sich die beiden Männer gleichzeitig zur Tür und sahen den alten Butler dort stehen.

Sherlock - I have only one friendWo Geschichten leben. Entdecke jetzt