Ms Nortons Geschichte

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John seufzte genervt. 

„Sie haben sich Zeit gelassen, John. Ich bin schon seit 20 Minuten hier. Aber wie auch immer: Lassen Sie uns über den Fall sprechen! Setzen Sie sich.“ Er grinste überheblich. Ms Norton und John setzten sich links und rechts von Sherlock auf die rot gepolsterten Stühle. Auch dieser Raum war altmodisch eingerichtet. An einem Ende gab es einen imposanten Kamin, auf dessen Sims zwei Adler thronten, an der Decke hing ein Kronleuchter aus Kristallen, die Füße des riesigen Ebenholztisches bestanden ebenfalls aus Vögeln und am anderen Ende waren schwere weinrote Samtvorhänge angebracht, zwischen denen ein Bücherregal stand. 

Sherlock beeindruckte das alles natürlich nicht. „Ms Norton, was hat es mit all den Vögeln auf sich? Es scheint eine Art Familientradition zu sein.“

Die Angesprochene nickte. „Ja, schon seit vielen Generationen ist die Ornithologie das Hauptmerkmal unserer Familie. Mein Vater hat mit der Entdeckung einer seltenen Drosselart ein Vermögen gemacht. Seitdem ist allerdings nicht mehr viel passiert...ich meine, was Vögel angeht. Meine Brüder haben eine Bank und sind nur auf Geld aus, und meine Schwestern sind verheiratet. Sie beobachten zwar in ihrer Freizeit Vögel, aber eigentlich nur zum Schein.“ Sie zuckte mit den Schultern. 

Sherlock legte die Fingerspitzen aneinander und versank in seine typische Denkhaltung. In seinen Augen schimmerte der Jagdtrieb, der ihn immer während der Ermittlungen überkam. „Und was ist mit Ihnen? Ich meine, beobachten Sie weiter Vögel?“ Ms. Norton nickte. „Ich bin die einzige, die das noch leidenschaftlich tut. Mein Vater und ich, wir sind oft in den Wald gegangen, und er hat mir beigebracht, die Vogelstimmen zu unterscheiden. Von ihm habe ich viel gelernt.“ In ihren Augen schimmerten Tränen. John kramte ein Taschentuch aus seiner Jackentasche und reichte es ihr. Sie tupfte sich über die Augen. Sherlock interessierte so etwas natürlich nicht. „Und jedes Familienmitglied hat als Symbol einen bestimmten Vogel?“

„Ja. Bei unserer Geburt bekommen wir unser eigenes Wappen, was sich ein bisschen von den anderen unterscheidet. Unser Vogel ist immer in der Mitte und die anderen sind kreisförmig drum herum. Sehen Sie?“ Sie hielt uns ihr Wappen hin. In der Mitte war eine Nachtigall drauf gestickt, oben eine Drossel und daneben der Adler. Danach folgte im Uhrzeigersinn ein Bussard, eine Schleiereule, ein Rabe, ein Flamingo und eine Krähe. 

„Und was hat das für einen Sinn? Ich meine, das ist ja alles ganz nett, aber doch ein wenig sinnfrei, meinen Sie nicht?“, Sherlock grinste überheblich.

„Nein, ist es nicht. Wissen Sie, jede Nacht, bevor ein neues Kind in die Familie hineingeboren wird, träumt das Familienoberhaupt, also meistens der Vater, von einer Vogelart. Außerdem träumt er auch dann, wenn etwas Schlimmes passiert. In der Nacht, bevor unsere Mutter starb, träumte er von einem Falken, der von einer Turmuhr flog und verschwand. Auf ihrer Beerdigung...da saß ein Falke in den Bäumen. Laut einer Sage wird die Familie irgendwann zerbrechen, und nur die Vögel werden uns dann noch retten können.“ Sherlock zog spöttisch die Augenbrauen hoch. „Und an sowas glauben Sie, ja? Ist das ihr Ernst? Deshalb haben Sie die Karte mit dem Adler und der 1 geschickt? Wegen eines alten Kindermärchens?“ John warf ihm einen warnenden Blick zu. „Er meint das nicht so, Ms. Norton, es ist nur etwas...“

„Nein, lassen Sie nur, Dr. Watson. Ich konsultiere auch keinen Detektiv deswegen. Es ist nur so..“ Sie senkte die Stimme. „Das Testament meines Vaters ist unauffindbar. Laut seines Notars hat er es kurz vor seinem Tod ungültig gemacht, er wollte es anscheinend komplett umändern, aber dann kam sein plötzliches Ableben. Aber ich glaube das nicht. Mein Vater hat mir jeden Abend, wenn ich an seinem Bett saß, erzählt, was ich alles mit meinem Erbe anfangen könnte. Wir haben ganz schön rumgesponnen-“, sie lachte bitter. „Es kann einfach nicht sein, dass er es einfach umändern will, obwohl er genau weiß, dass er nicht mehr lange hat.“ Sherlock unterbrach sie. „Und deswegen haben Sie uns herholen lassen, ja? Ich glaube, sie wollen einfach nicht wahrhaben, dass Ihr Vater Ihnen plötzlich doch nicht das hinterlassen hat, was er Ihnen geben wollte. Vielleicht sollten Sie sich besser einen Psychologen suchen, damit Sie über den Tod Ihres Vaters hinwegkommen. Guten Tag.“ Damit stand er auf und bedeutete John zu gehen. Der Doktor blieb empört sitzen. Ms. Norton starrte den Detektiv schockiert an. „Ich....“, sie schluckte. „Nun gut. Wie Sie meinen.“, Alice Norton stand ruckartig auf und rauschte aus dem Salon. John seufzte. „Sehr freundlich, Sherlock. Das haben Sie mal wieder wunderbar hinbekommen.“

Sherlock - I have only one friendWo Geschichten leben. Entdecke jetzt