Ein geheimnisvolles Päckchen

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Nach einigen Minuten passierte immer noch nichts. John wunderte sich, dass Mrs. Hudson jemanden in der Kälte stehen ließ, das sah ihr gar nicht ähnlich. Aber vielleicht war sie immer noch etwas wütend. Sherlock sah zu John, und der Doktor wusste, dass er keine Chance hatte. „Jaja, ich geh schon.“ Murrend erhob er sich, stapfte extra laut und langsam die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Ein eisiger Wind fuhr ihm ins Gesicht, der Schnee brannte auf seinen Wangen und in seinen Augen. John schlug die Tür wieder zu, wischte sich übers Gesicht; er nahm einen Schirm und machte erneut die Tür auf. Draußen stand niemand, auch als John vorsichtig nach links und rechts blickte, sogar ein Stück aus dem Haus ging und die Straße hinuntersah, konnte er niemanden sehen. Verärgert lief er wieder hinein, als er ein kleines Päckchen bemerkte, dass neben den Treppen stand. John hob es auf und sprang schnell die Stufen hoch in die 221B Baker Street, dankbar über die Wärme. Seine Finger waren taub und sein Morgenmantel voller Schnee.

Wieder im Wohnzimmer, wurde er von einem ungeduldigen Sherlock erwartet. „Haben Sie den Klienten etwa weggeschickt?“ Ein vorwurfsvoller Unterton war in der Stimme des Detektivs zu hören. John ignorierte ihn und setzte sich in seinen Sessel. Das Päckchen war etwas größer als seine Hand. Er schlitzte es mit seinem Brotmesser auf.

Sherlock hasste es, ignoriert zu werden; er beugte sich stirnrunzelnd vor. „Ich nehme an, das haben Sie vor der Tür gefunden?“

John klappte die Pappe zur Seite. In dem Päckchen war viel Styropor. John schüttelte es leicht. Er hörte nichts, was auf einen Gegenstand aus Glas hindeuten könnte. Trotzdem nahm er vorsichtig die Styroporteilchen heraus. Der Inhalt des Päckchens schien ein Zettel zu sein. Vorne war das Bild eines Vogels, eines Adlers, draufgeklebt. Hinten wurde die Zahl „1“ draufgeschrieben.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte John verwundert.

Sherlock grinste. „Ein Rätsel...endlich!“ Er sprang auf und hüpfte, wie jedes Mal, wenn so etwas oder etwas Ähnliches passierte, in der Wohnung auf und ab. „Ein Rätsel, John! Die Langweile ist vorbei!“

Der Detektiv rannte in sein Schlafzimmer, um sich umzuziehen. John schmunzelte, trank seinen Tee aus und ging ins Bad. Sherlock war meistens unmöglich, aber ihn so aufgeregt zu sehen wie ein kleines Kind, das sich auf Weihnachten freut, war einfach zu köstlich.

Ohne es richtig zu bemerken, begann er, ein Weihnachtslied zu pfeifen, als er in die Dusche stieg. Das Wasser wärmte ihn wieder richtig auf und er dachte über den Adler nach. John versuchte, so wie Sherlock an die Sache heranzugehen. Ein Adler stand für Stärke, für Scharfsinn und für Mut, ein königliches Tier. Er war auch ein Symbol von Deutschland, der Bundesadler. John kannte mehrere Arten, wie den Weißkopfseeadler oder den Steinadler, allerdings wusste er nicht, welcher auf der Postkarte war. Ihm kam auf einmal wieder dieser Zeitungsartikel über Lancelot Norton in den Sinn. Die Familie Norton hatte ein Faible für Vögel, daher wurde jedes Mitglied der Familie mit einem Vogel assoziiert. John meinte, ein Adler wäre auch darunter.

Etwas frustriert über seine spärlichen Ergebnisse, zog er sich an und ging wieder ins Wohnzimmer, wo Sherlock auf ihn wartete.

„Und, haben Sie schon etwas herausgefunden?“

Sherlocks arroganter Tonfall und sein spöttischer Blick mit den hochgezogenen Augenbrauen und dem höhnischen Lächeln missfiel John, weshalb er grantig „Nicht viel“, brummte und sich in seinen Sessel fallen ließ.

„Lassen Sie mal hören.“

„Auf keinen Fall. Ich lasse mich hier nicht von Ihnen fertigmachen.“

„Kommen Sie, John. Sie wissen doch, dass ich Ihre Meinung schätze.“

John seufzte und wusste, dass diese Diskussion noch ewig so weitergehen würde. „Na schön.“ Er sah noch einmal auf die Postkarte, und ihm fiel zum Glück ein, welche Art das war: Ein Königsadler.

„Also...das ist auf jeden Fall ein Königsadler. Adler werden „König der Lüfte“ genannt, können sehr gut sehen; sie sind Raubvögel, stehen für Weitsicht und Tapferkeit; außerdem ist ein Symbol Deutschland der Bundesadler.

Des Weiteren gibt es noch das Geschäft Adler und eine Frau namens Irene Adler, die hiermit aber wohl wenig zu tun haben. Bei der Familie Norton hat jedes Familienmitglied einen Vogel aus Symbol; vielleicht hat ein Mitglied einen Königsadler. Ja...das wars eigentlich.“

John schaute Sherlock abwartend an. Dieser hatte die Fingerspitzen aneinandergelegt und betrachtete den Doktor schon mit fast so etwas wie Anerkennung, obwohl John wusste, dass es nicht so war.

„Sie sind ja heute gut drauf! Bis auf wenige Dinge waren die Informationen zwar weitgehend unwichtig, aber...das mit der Familie Norton ist, glaube ich, der Kernpunkt. Lancelot Norton, der vorige Nacht an Krebs starb, hinterließ sieben Kinder; das Testament wurde noch nicht gefunden. Auch wenn jedes Kind seinen Pflichtanteil bekommt, bleibt doch relativ viel übrig. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass er ein Testament verfasst hat. Die Frage ist jetzt: Sollen wir das Testament finden? Das ist unter einer sechs.

Nun zu der 1 auf der Rückseite: Sie könnte für das erstgeborene Kind stehen. Ich möchte, dass Sie Nachforschungen anstellen, John. Bringen Sie mir alles, was Sie über die Familie herausfinden können.“

„Und was machen Sie?“

„Ich begebe mich zum Notar von Norton. Er schuldet mir einen Gefallen.“

Mit einem überheblichen Grinsen stand der Detektiv auf, zog seinen Mantel noch im Gehen an und machte sich auf den Weg. John verdrehte die Augen und suchte die Adresse von Norton.

Sherlock - I have only one friendWo Geschichten leben. Entdecke jetzt