Zweifaches Verhör

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Alice zitterte. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet, und sie hockte zusammengesunken auf ihrem Stuhl. „Wie kommen Sie darauf, dass ich ihnen das erzähle“, schluchzte sie verbittert. Sherlock und John saßen wieder im Salon und verhörten Alice, dieses Mal war sie allerdings nicht so kooperativ. 

„Alice.“, versuchte der Doktor es nochmal diplomatisch. „Wir haben das Gespräch mitangehört. Sie können uns alles sagen, was Sie wissen. Ansonsten machen Sie sich vielleicht der Mithilfe schuldig.“
„Sie haben doch keine Ahnung!“, stieß sie hervor. Sherlock seufzte. Geduld war wirklich nicht seine Stärke. „Da ich eben keine Ahnung habe, wie Sie gerade gesagt haben, könnten Sie ja so freundlich sein und mich aufklären. Ich kann natürlich auch gerne Lestrade einschalten.“
Sie sah ihn beleidigt an. „Na schön. Aber Sie werden niemandem verraten, was ich Ihnen jetzt sage.“
Die beiden sahen sich an und nickten.
„Gut. Wissen Sie, George nahm regelmäßig Tabletten gegen Stress. Das Hausmädchen war unter anderem dafür zuständig, ihm die Tabletten auf sein Zimmer zu bringen. Wissen Sie, George macht oft Überstunden und schläft dafür morgens.“
„Ja, und weiter?“, fragte Sherlock.
„Dann sah ich heute morgen Penelope, wie sie mit dem Hausmädchen sprach und ihr das Tablett mit den Medikamenten abnahm. Das kam mir doch sehr seltsam vor und ich folgte ihr unauffällig, da sah ich, wie sie die Medikamente vertauschte. Und kurz darauf war George tot.“ Sie schluchzte.
„Also für mich klingt das ziemlich eindeutig“, sagte John. „Gehen wir und berichten es Lestrade, der kann Penelope dann verhaften.“ Alice sah ihn wütend an. „Sie haben versprochen, es niemandem zu verraten!“
„Aber es geht hier um Mord, Alice. Und diese Sache spricht ganz eindeutig gegen ihre Schwester, nicht wahr, Sherlock?“
Der Detektiv starrte gedankenverloren an einen Punkt an der Wand und hatte seinen Kopf auf seine aneinandergelegten Hände gestützt. „Das würde ich nicht sagen.“
„Was? Die Beweislage ist eindeutig!“, John lachte verwirrt.
„Ja, John. Und ich finde sie zu eindeutig. Nichts ist trügerischer als eine offensichtliche Tatsache. Wir sollten unauffällig weiter ermitteln.“
Der Doktor verdrehte die Augen. „Da gibt es nichts mehr zu ermitteln. Was sollen wir denn noch tun?“
„Augen und Ohren offenhalten und vor allem: Herausfinden, was Penelope mit dem Mord zu tun hat. Sie hängt definitiv mit drin, aber sie hat ihn nicht absichtlich ermordet. Es gibt einen Hintermann...und den werde ich aufspüren.“ Er stand auf und schob den Stuhl zurück. „Nehmen wir uns doch mal die liebe Penelope vor.“ Der andere seufzte. „Na schön. Aber nur unter einer Bedingung: Sie enthalten mir keine Fakten, die ich nicht sehe, und auch keine ihrer Theorien. Verstanden?“
„In Ordnung“, antwortete Sherlock. Er ging schwungvoll zur Tür und war schon auf dem Weg nach oben. John fürchtete, dass er noch eine ganze Weile in diesem Haus verbringen würde.

~*~

Penelope war genauso biestig wie vorhin. Sie lag in ihrem Zimmer auf dem Bett und las ein Buch.
„Was wollen Sie denn schon wieder?“, moserte sie, als Sherlock die Tür öffnete. „Sucht euch einen anderen Raum für eure...erotischen Spielchen oder was auch immer.“
John wurde wieder knallrot. Verdammt! 'Wieso..wieso musstest du das tun, Sherlock Holmes?', fluchte er innerlich.
„Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, Mrs Norton.“, Sherlock schritt langsam ein Stück auf das Bett zu.
Entnervt warf sie ihr Buch neben sich. „Sie stören. Gehen Sie wieder, aber schnell.“
„Oh, ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie diese Fragen beantworten wollen.“
Unverblümt stellte er sich direkt vor die Frau, die erschrocken zu ihm hoch blickte. „Halten Sie gefälligst Abstand, oder ich zeige Sie wegen Belästigung an.“
„Das glaube ich nicht.“, Sherlock rückte keinen Millimeter weg. „Also: Wieso haben Sie das Medikament für George ausgetauscht?“
Penelope erbleichte. „Wer sagt, dass ich es ausgetauscht hätte?“
„Das ist nicht wichtig. Beantworten Sie die Frage.“
Sie starrte ihn nur aus zornfunkelnden Augen an.
„Ich kann natürlich auch gerne Detective Inspektor Lestrade holen. Vielleicht werden Sie bei ihm gesprächiger.“ Sie sagte immer noch nichts. Sherlock seufzte. „Na, dann werde ich ihn mal holen.“ Er ging langsam zur Tür. Unsicher drehte John sich zu ihm um. Langsam öffnete er sie so, dass sie quietschte; er schaute nochmal zu Penelope, dann zuckte er mit den Schultern und machte Anstalten, rauszugehen.
„Ist ja gut! Ich sag es Ihnen!“, rief Penelope. „Aber halten Sie diesen Inspektor da raus!“
Sherlock lächelte; er sah aus wie eine Katze, die endlich die Maus in der Falle hatte.
„Gut! Dann werde ich Ihnen zuhören. Aber versuchen Sie nicht, mich zu überlisten.“
Er ging langsam zurück zu ihr.
„I..i..ich hab ihn nicht umgebracht; das würde ich nie tun.“, flüsterte sie erstickt.
„Aber es ist ja klar, dass es so aussieht. In Wahrheit war es nämlich umgekehrt.
Ich hörte, wie unser verstorbener Vater und unser Butler einen heftigen Streit hatten. Ich lauschte; als Kind in einer Großfamilie wird das zur Angewohnheit, gerade in dieser Familie.
'Ich will das nicht tun', rief unser Butler aufgebracht. 'Das können Sie nicht ernst meinen.'
'Sie haben sich aber hier verpflichtet', antwortete Vater seelenruhig. 'Im Vertrag, den Sie unterschrieben haben steht, dass Sie alles tun müssen, was ich verlange. Im Gegenzug werden Sie, falls sie das nicht wollen, für ihr Verhalten nicht zur Verantwortung gezogen. Außerdem – wenn ich Sie daran erinnern darf, habe ich Sie immer fürstlich bezahlt!'
'Trotzdem kann ich das nicht tun. Das können Sie nicht verlangen!'
Danach stritten sie nur noch hin und her, bis Vater sagte: 'Sie haben Wettschulden, mein Lieber, und das nicht zu wenige. Stünden Sie nicht unter meiner Fittiche, wären Sie schon längst hinter Gittern. An ihrer Stelle würde ich mich fragen, was Ihnen wichtiger ist: Ihre Freiheit, oder ihr Gewissen!'
Danach sagte unser Butler nichts mehr. Aber ich sah ihn heute morgen, wie er für George die Medikamente bereitstellte..er nahm welche aus einer anderen Packung; als er aus dem Raum war, sah ich nach: Auf der Packung stand 'Zyankali'.
Anscheinend hatte unser Butler vom Vater den Auftrag erhalten, George zu töten..der Butler ist ein herzensguter Mensch, der uns ein Ersatz für die früh verstorbenen Großeltern ist..ohne Zwang würde er niemanden ermorden. Also nahm ich aus der Packung der Medikamente für George eine Pille, die genauso aussehen wie Zyankali – Kapseln, tauschte sie mit der Zyankali – Kapsel und brachte sie George. Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte!“
Penelope schluchzte. „Entschuldigen Sie mich!“
John bedeutete Sherlock, mit raus zukommen, was er zu seiner Überraschung auch tat. Die arme Frau musste sich erst ausruhen.
„Was meinen Sie dazu, Sherlock? Sagt Sie die Wahrheit?“, flüsterte John, als sie ihre Zimmertür hinter sich geschlossen hatten.
„Ja.“, antwortete er. „Und das bedeutet, dieser Fall ist größer, als wir bisher angenommen haben.“

Sherlock - I have only one friendWo Geschichten leben. Entdecke jetzt