Kapitel 6

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Wie aus dem Boden gewachsen stand dort plötzlich ein weißes Pokémon. Es hatte vier, kräftige Beine und dunkle, scharfe Krallen. Sein Kragenfell war lang und buschig, sein Körper schlank und dennoch kräftig. Seine roten Augen schimmerten in der Dunkelheit und ein sichelförmiges Horn saß seitlich an seinem Kopf. Magnayen legte die Ohren an und knurrte, sein Fell stellte sich auf. Das Pokémon auf der Wiese regte sich nicht, sondern sah nur auf Magnayen. Dann drehte es ich weg und lief davon. „Was... war das?" fragte ich. „Ein Absol." antwortete Psiana. „Sie sind selten geworden, weil sie oftmals von anderen Pokémon angegriffen wurden.", „Wieso?", „Weil sie der Grund für Unglück sind." Psiana zuckte mit dem Schweif. „Irgendwas wird passieren. Bald. Wir sollten von hier verschwinden, Raito..." Ich zuckte zusammen. „So ein schönes Wesen ist der Bringer der Apokalypse?", „Ja." Psiana nickte. Im nächsten Moment, als ich mich aufrichten wollte, wankte ich und Sterne tanzten vor meinen Augen. „Urgh...", „Hier, iss welche." Psiana schob mir die Beeren zu, die sie geholt hatte. „Dein Körper muss äußerst widerstandsfähig sein, wenn dich der Schwindel erst jetzt erfasst, der durch das Gift verursacht wird." Schweigend griff ich nach den Beeren, hatte aber so meine Mühe damit, denn plötzlich sah ich alles doppelt und die Geräusche drangen nur dumpf zu mir durch. Als ich eine zu fassen bekam, führte ich sie zum Mund und spürte, wie meine Hand bebte. „Raito, halt durch..." hörte ich Psianas Stimme. Ich schwitzte und biss die Zähne zusammen; konzentrierte mich darauf, die nächste Beere zu ergreifen. Und dann die nächste. Und wieder die nächste.

Nach einer Weile ließ das Schwindelgefühl nach. „Natürliches Gegengift." sagte Psiana. „Los, wir müssen von hier weg!" Ich war so sehr auf die Beeren fokussiert gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass Magnayen verschwunden war und auch alle anderen Pokémon plötzlich fort waren. In dem Moment sah ich Swaroness. Es lag schwer verletzt und blutend auf dem Boden. Die Bisswunde, die Magnayen ihr zugefügt hatte, musste tief reichen. Ihr Wasserring war noch aufrecht, aber ich wusste nicht, für wie lange noch. „Wir müssen ihm helfen." sagte ich, aber Psiana schüttelte den Kopf. „Wir müssen hier weg, Raito. Sofort. Sein Ring heilt es. Es wird es überstehen!", „Aber ich hab ihm die Wunden zugefügt!" sagte ich. Psiana packte mein T-Shirt mit dem Maul. „Komm jetzt! Wir haben keine Zeit für so etwas. Komm!" Ich sah zweifelnd auf Swaroness, als seine Wunde sich etwas weiter schloss und das Blut träger gen Boden rann. Erst jetzt vermochte ich es, mich von meinen Schuldgefühlen zu befreien, wenn auch nur für kurze Zeit, wie ich mir denken konnte. Ich nickte Psiana zu und rannte blindlings irgendwo hin, wo hin wusste ich nicht. Ich rannte einfach. Weg von all dem. Als ich noch einen Blick zurück warf, konnte ich sehen, wie die Geister aus dem Wald kamen. Panik brach am See aus und die Pokémon liefen und schwebten davon. Ich wollte gar nichts mit alldem zu tun haben. Ich war Schuld an allem. Ich hätte dableiben und kämpfen sollen, aber Psiana ließ das nicht zu. Ich hätte weinen mögen. Ich hätte schreien mögen. Aber was ich stattdessen tat, war weglaufen. Ich rannte weg.

Als ich gar keine Kraft mehr hatte, brach ich im Gras zusammen. Das Gerenne hatte einfach keinen Sinn mehr. Ich schlug die Hände über den Kopf zusammen und ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Ich schrie und die ersten Tränen kamen meine Wangen herunter geflossen. Ich schlug mit der Faust auf den Boden und schrie, bis mein Hals wehtat. Ich konnte Psiana weder hören noch sehen, aber sie war in der Nähe, hielt vermutlich Abstand, um mich nicht zu stören. Und da war ich im Moment auch froh drüber. Ich zog die Beine an und wünschte mir einfach, zu sterben. Ich hätte niemals herkommen sollen. Ich hasste es. Ich hasste mich und diese dumme Fähigkeit, die ich hatte. Ich hasste meine eigene Hilflosigkeit, meine Blödheit und einfach alles. Ich wusste ja, dass alles aus einem Grund passierte. Aber manchmal wünschte ich mir, dass ich wüsste, was dieser Grund war. Wenn ich ihn finden würde, dann würde ich ihn auf jeden Fall ordentlich verprügeln. Dieser Gedanke munterte mich zumindest ein wenig auf. Ich setzte mich auf und wischte mir die Tränen vom Gesicht. Ich löste den Knoten in den Ärmeln meiner Strickjacke, die ich mir um die Hüften gebunden hatte und legte sie über meine Schulter. Es war inzwischen ziemlich kalt geworden. Ich sah nach oben und mein Blick blieb an den Sternen hängen. „Schön, nicht wahr?" hörte ich Psianas Stimme in meinem Kopf. Ihre Silhouette kam näher. „Ja..." sagte ich. „Geht's dir jetzt wieder besser?", „Nicht im Geringsten." antwortete ich. „Ich fühle mich so falsch, so fehl am Platz. Verstehst du, was ich meine?" Psiana nickte nur wortlos. Sie setzte sich neben mich und wedelte mit dem Schwanz. Sie sah ebenfalls nach oben. „Ich mag das Licht, da es mir den Weg weist... Trotzdem halte ich die Dunkelheit aus, weil sie mir die Sterne zeigt." Ich sah zu ihr. Sie erwiderte meinen Blick. „Was hast du dir am meisten gewünscht, als du hier her gekommen bist?" fragte sie plötzlich. Ich zuckte zusammen. „... Ich... ich wollte nicht alleine sein. Ich habe mich anfangs so einsam gefühlt...", „Einsamkeit ist sehr schlimm." Psiana legte ihren Kopf an meinen Oberarm. „Aber jetzt bist du ja nicht mehr alleine, nicht wahr?" Ich starrte sie erst einmal an, dann hob ich die Hand und streichelte sie sanft. „Ja. Das stimmt..." Plötzlich fiel mir etwas ein. „Hey, Psiana... Die Pokémon hier in der Gegend scheinen Menschen nicht leiden zu können. Warum nicht?", „Nun ja..." Psiana schloss entspannt die Augen. „Menschen tendieren sehr schnell dazu, dich über Wesen zu stellen, die sie für geringer erachten. Sie fügten Pokémon großes Leid zu, bis... nun ja...", „Bis was?", „Bis... sie verschwanden.", „Sie verschwanden?" Sie nickte. „Einfach so." Ich sah wieder ratlos in den Himmel. „Meinst du, es gibt einen Ort, wo sie noch immer existieren? Sie vielleicht mit Pokémon zusammen im Einklang leben? Ich bin mir nicht sicher, aber ich habe das Gefühl, dass es irgendwo auf dieser Welt einen solchen Ort gibt... Fernab von den Weiten der Wildnis..." murmelte ich. Psiana sah nicht zu mir rüber. „Das klänge mir sehr utopisch... Aber nicht alle Menschen sind grausam...", „Wie meinst du das?", „Du hast versucht, mich zu beschützen, Raito." sagte Psiana. „Du bist anders. Du bist... besonders." Ich schüttelte den Kopf. „Das ist nicht wahr. Ich bin weder ein Held noch ein Wunderkind noch sonst irgendwas. Ich bin ein Idiot, der seine Fähigkeit dafür benutzt, anderen wehzutun." Psiana lachte. „Was ist so lustig?" fragte ich verwirrt. „Nun ja... vielleicht solltest du mal aufhören, es so zu sehen, als wäre es was Schlechtes." sagte Psiana. „Du siehst immer nur die Schattenseite der Dinge. Aber Schatten entsteht nur durch Licht, das weißt du doch, nicht wahr? Natürlich tust du anderen weh, aber das tun deine Feinde doch auch. Mit dieser Fähigkeit kannst du jene verteidigen und unterstützen, die dir was bedeuten. Daran schon mal gedacht?" Ich schwieg. Das hatte ich tatsächlich nicht bedacht. Ich fand es schrecklich, anderen wehzutun. Ich wusste, dass das nicht meine Absicht war und alles, aber es war trotzdem meine Schuld. Ich hetzte Freunde gegeneinander auf. Aber tief in mir drin wusste ich, dass Psiana recht hatte. Ich musste aufhören, die Dinge nur aus dem Negativen heraus zu betrachten. Aber war ich stark genug, das zu meistern? War ich stark genug, im Körper eines anderen zu kämpfen und zu gewinnen? War ich das? Ich wusste es nicht, aber ich kannte Psianas Antwort auf die Frage, wenn ich sie ihr stellen würde. Versuch es einfach. Ich fragte mich, wie sie sich wohl gefühlt haben musste. Wie ihre Vergangenheit aussah. Wir waren auf der Flucht vor etwas und ich fragte mich, wie sie damit klarkam, ihre Heimat zu verlassen. Es musste ihr wohl auch sehr wehtun. Vielleicht sogar mehr, als sie zugeben mochte. Wenn es doch nur einen Ort geben würde, an dem wir bleiben könnten. An dem Frieden herrscht. Ich sah seitlich zu Psiana. Sie schien eingeschlafen zu sein und auch ich fühlte mich sehr müde. Ich hatte keine Ahnung, wann der Morgen grauen würde, aber lange konnte es nicht mehr dauern. Ich legte mich rücklings ins Gras und verschränkte die Arme hinter meinem Kopf. Ich sah zu den Sternen hinauf. Ich blieb noch ein wenig wach, bis mir die Augen zufielen und ich in die Traumwelt hinüber glitt.

Pokémon: Subconscious MindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt