Chapter 1

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Mein Leben war perfekt. Eigentlich. Ich hatte alles was man braucht um Glücklich zu sein. Ich war zwar nicht die Hübscheste, aber auch nicht die Hässlichste. Ich war immer zufrieden mit mir selbst. Mit meiner Familie. Mit meinen Freunden. Für mich gab es nie einen Grund unzufrieden zu sein. Ich lebte mein Leben wie jeder 16 jährige Teenager. Ich ging zur Schule, traf mich ab und zu mit Freunden und tat was man halt so tut den lieben langen Tag. Einen Unterschied gab es allerdings. Ich war gelähmt. Zum Glück nicht ganz. Ich konnte eigentlich alles bewegen, nur meine Beine nicht. Ich hatte keine Kontrolle über sie und konnte dementsprechend  auch nichts spüren. Zuerst konnte ich zumindest meine Oberschenkel noch bewegen und nur meine Unterschenkel waren wie abgehackt. Aber die Lähmung hat sich ausgebreitet und meine Familie und ich hofften täglich aufs neue, dass sie sich nicht noch weiter ausbreiten würde.

"Hanna, kommst du bitte wieder rein. Es wird langsam kalt draußen." rief meine Schwester Helena mir zu. Ich drehte mich um und sah sie lächelnd an. Ich konnte so froh sein, eine Schwester wie sie zu haben. Auch wenn sie mich manchmal behandelte als wäre ich ihr Eimer in den sie gelegentlich mal reinkotzen konnte.
Ich rollte mit meinem Rollstuhl durch die Terrassentür wieder rein. Ich saß gerne Abends auf der Terrasse und genoss die untergehende Sonne. Immer wenn ich die Sonnenstrahlen auf meiner Haut spürte, fühlte ich mich frei. Ich fühlte mich als könnte ich laufen und überall hin rennen wo ich nur wollte. Ich fühlte mich normal. Das klingt vielleicht verrückt, aber Licht motiviert mich, beruhigt mich und lässt mich gut fühlen. Ich mag Dunkelheit nicht. Dunkelheit verbinde ich mit mit schlechtem. Mit Schmerzen, Krankheit, Tod.
"Kannst du Henry beim Tisch decken helfen?" fragte mich meine Mutter. Henry ist mein Bruder. Er war 9 Jahre und manchmal sehr anstrengend. Ich wurde hier behandelt als wäre ich normal. Ich musste so gut wie ich konnte im Haushalt mithelfen und bekam keine Sonderbehandlung, damit meine Geschwister sich nicht vernachlässigt fühlen.

Nach dem Abendbrot machte ich den Abwasch und fuhr in mein Zimmer, welches sich selbstverständlich unten befand. Mein Zimmer war sehr groß, damit ich auch überall mit dem Rollstuhl hin kam. Inzwischen hatte ich gelernt wie ich mit meinem Handicap umzugehen habe. Ich bin quasi damit aufgewachsen.
Duschen ging nur mit Duschhocker. Stehen konnte ich ja nicht. Schön wär's. Ich zog mich mit Hilfe von Krücken aus dem Rollstuhl und ließ mich auf den Boden meines Zimmers fallen, da dieser mit Teppich bezogen war, damit ich genau sowas tun konnte. Ich zog zuerst mein Shirt aus und dann schnappte ich mir meine Beine und legte sie vor mich hin. Dann öffnete ich den Hosenknopf und versuchte irgendwie mir die Hose auszuziehen. Anziehen ist immer leichter als ausziehen. Dann zog ich auch meine Unterwäsche aus. Manchmal ist es echt von Vorteil klein zu sein.
Hätte ich lange Beine bräuchte ich wahrscheinlich jemanden der mich an und auszieht. Das Jugendamt wollte uns eine Pflegerin andrehen, da meine Eltern beide arbeiteten und sich nicht immer um mich kümmern konnten, aber ich wollte das nicht. Ich komme alleine klar.
 
Nach einer entspannten Dusche ließ ich mich müde ins Bett fallen. Ich richtete meine Beine, deckte sie zu (obwohl ich die Kälte eh nicht spüren würde) und machte das Licht mit einer Fernbedienung aus.
Immer wenn ich im Bett liege denke ich darüber nach wie mein Leben wohl wäre wenn ich nicht gelähmt wäre. Die Dunkelheit beschleicht mich, ich werde melancholisch und wünsche mir ein anderer Mensch zu sein. Ein Mensch der ganz normal wäre. Ich hätte wahrscheinlich andere Probleme.
Ich machte das kleine Licht neben meinem Bett an und ermutigte mich selbst. Manchmal sollte man mit dem zufrieden sein was man hat. Denn schlimmer geht immer.
Ein einfaches Beispiel ist, meine Chemielehrerin. Wir hatten zuerst einen älteren Mann und der fand es besonders lustig seine Schüler zu ärgern.
In jeder Klasse hatte er ein 'Opfer' welches er immer in irgendwelche 'Fallen' rennen ließ und für dumm erklärte. In meiner Klasse war natürlich ich das Opfer. Ich mochte ihn wirklich nicht, aber ich hätte mit ihm zufrieden sein sollen, weil er immer Witze gemacht hat und schön locker drauf war. Bei ihm hatte man immer zweite Chancen bekommen und er war bereit Fragen auch noch ein zehntes Mals zu klären. Alles Dinge die mir natürlich erst jetzt im Nachhinein aufgefallen sind. Er ist in Rente gegangen.
Dann kam eine neue Lehrerin und die ist wirklich streng. Sie verteilt liebend gerne 6en und zieht ihren Unterricht streng durch. Wenn dir ein halber Punkt zur besseren Note fehlt oder du auf Kippe stehst gibt sie dir immer die schlechtere Note. Egal ob du im Unterricht mitarbeitest oder nicht.
Fakt ist: Ich mag die Frau nicht.
Ich meine letzten Endes konnte ich ja nicht für den Lehrer wechsel, aber dadurch, dass ich mit dem alten Lehrer nicht zufrieden war, hatte ich selten aufgepasst und war mit meinen Gedanken immer woanders, sodass ich gar keine chemischen Grundlagen hatte und es mir immer schwerer fiel, das zu verstehen was gesagt wurde.

Von dem ganzen Nachdenken bekam ich Durst, also setzte mich auf und zog mich in meinen Rollstuhl. Dann öffnete ich die Tür und fuhr in die Küche um etwas zu trinken. Die Tür ging auf und mein Papa schaute rein. "Ist alles okay, Schätzchen?"fragte er besorgt. "Ja, ich wollte nur noch schnell was trinken." und schon verschwand ich wieder in den Flur. Er schob mich in mein Zimmer und hob mich auf mein Bett. "Ich kann das auch alleine!" beschwerte ich mich mit einem Lächeln auf den Lippen. Er lächelte mich an. "Das weiß ich doch." Mein Papa deckte mich zu und gab mir einen Kuss. "Schlaf schön, Maus." und schon war er weg.

Kiss me (Lukas Rieger FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt