thirtysix

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-Maxim-
In meinem Kopf herrschte ein Ausnahmezustand wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Selbst als sie unsere Einheit auf ein Himmelfahrtskommando geschickt hatten, waren meine Gedanken klarer und strukturierter gewesen als jetzt. Ich hatte damals funktioniert und im Gegensatz zu dem Rest meiner Einheit nicht das Handtuch geworfen, sondern mit kühlem Kopf an einer Lösung gearbeitet. Jetzt jedoch war alles anders. Die Angst um Corinne war übermächtig und ließ meinen gesunden Menschenverstand in sich zusammen schrumpfen. Wie erstarrt stand ich da. Betrachtete das seltsame Muster, welches vor meinen Augen, an ihrem Hals Gestalt annahm. Wusste nicht, was ich tun sollte. Wie sollte ich auch nur einen vernünftigen Gedanken zustande bekommen, wenn ich derjenige war, der die Frau, die ich liebte, womöglich umbringen würde? Noch spürte ich Corinnes warmen Körper in meinen Armen, ihr Atem glitt leicht über meine Haut und das Schlagen ihres Herzens glich einer der schönsten Melodien in meinen Ohren. Doch wie lang würde das noch der Fall sein? In Corinnes Gesicht konnte ich nur zu deutlich ihre Angst sehen. Verständlich. Ich fühlte die gleiche Angst um sie. Irgendetwas Schwarzes breitete sich an der Stelle aus, an der ich sie gebissen hatte und weder sie noch ich wussten wie wir es stoppen konnten, noch was es für Folgen haben würde. Mit Sicherheit keine Guten.
„Fühlst du es? Hast du Schmerzen? Ist dir irgendwie komisch?", fragte ich als mir dieser Gedanke kam, dass sie wahrscheinlich Schmerzen haben musste. Überraschenderweise schüttelte Corinne den Kopf. „Nein, gar nichts. Bis gerade eben habe ich mich wunderbar gefühlt.", wehrte sie ab.
„Und jetzt?" Womöglich packte ich sie zu fest an, doch die Angst, dass sie vor meinen Augen zusammenklappen oder einfach verschwinden könnte, war übermächtig. Ich konnte sie nicht loslassen oder auch nur meinen Griff lockern. Alles in mir schien durchzudrehen bei dem bloßen Gedanken.
„Jetzt ist mir kotzschlecht. Aber das ist die Angst.", erklärte sie mir gnadenlos ehrlich. Und ich war ihr dankbar dafür. Sie sollte mir nichts verheimlichen, nur um mich zu schonen. Ich musste alles wissen um eine Lösung finden zu können. Und ich würde eine Lösung finden. Aus dem schlichten Grund, dass mir gar nichts anderes übrig blieb. „Das ist verständlich.", versuchte ich sie zu trösten, „Aber ich werde einen Weg finden um das wieder gut zumachen." Dieses Versprechen gab ich nicht nur ihr, sondern auch mir. „Und sonst spürst du nichts?", versicherte ich mich, dabei überging ich den Einwand, den sie womöglich gegen meine Worte erheben wollte. Ich würde es wieder ungeschehen machen, sodass ihr nichts fehlte.
„Wirklich nichts.", bestätigte sie und sah mir unverwandt in die Augen.
Verwirrt nickte ich und fuhr mir durchs Haar. Corinne hatte ein schwarzes Muster auf der Haut, aber fühlte nichts. Es erschien mir kaum vorstellbar, dass sie es nicht spüren konnte. Aber das war womöglich ein gutes Zeichen. Hoffte ich zumindest. Vielleicht bedeutete es ja, dass es gar nicht so schlimm war wie es in diesem Moment schien. Versuchte ich mich zu beruhigen. Wenn ich keinen klaren Gedanken fassen konnte, würde ich ihr nicht helfen können. Und um klar denken zu können, musste ich ruhig werden. Lange hielt dieser Gedanke nicht, denn diese pessimistische, innere Stimme meldete sich wieder zu Wort: Vielleicht war es aber auch ein schleichendes Gift, dass schmerzfrei wirkte. Ohne dass ich es wollte verzog sich mein Gesicht. Natürlich entging Corinne dieser Ausdruck nicht, da sie mich aufmerksam musterte, um allein mit ihren Blicken herauszufinden, was in meinen Kopf vorging. „Was?", fragte Cori panisch.
„Ich bring dich zu Zarek, damit er nach dir schauen kann und dann suche ich die Vampire auf. Sie müssen ein Gegengift oder irgendetwas anders haben.", beschloss ich in dem Moment, in dem ich die Worte sagte. Ich würde Corinne sicherlich nicht noch mehr mit meinen Befürchtungen beunruhigen. Nicht bevor ich mehr als lediglich einen schrecklichen Verdacht hatte. Corinne nickte und ich war ihr dankbar, dass sie nicht protestierte.
„Okay, das klingt gut. Zieh dich an.", verlangte sie von mir. In Rekordgeschwindigkeit schlüpfte ich in meine Sachen und war fertig bevor Corinne sich ihren Pullover über den Kopf gezogen hatte. Sanft half ich ihr. Hatte sie womöglich doch Schmerzen? Aufmerksam musterte ich sie, doch weder ihr Gesicht noch ihre Augen verrieten mir etwas in diese Richtung.​
„Bereit?", fragte ich.
„Zarek bringt uns um.", meinte sie unsicher und griff nach meiner Hand.
Ich schüttelte den Kopf. „Er bringt mich um, nicht dich. Und das zu Recht." Die letzten Worte murmelte ich nur. Corinne hörte sie trotzdem und legte mir eine Hand auf den Arm. „Nein, es war meine Schuld. Du hast dich im Gegensatz zu mir beherrschen können. Ich bin dran schuld." Ihre Augen zeigten mir die Reue, die ich fühlte und verrieten mir, dass sie mir wirklich nicht die Schuld dafür gab. Dabei war ich nicht bereit meine Schuld an sie abzutreten. Ich hatte die Beherrschung verloren und sie litt nun. Gequält sah ich sie an. Sie war so hinreißend schön und vertrauensvoll mir gegenüber. Dabei war es wahrscheinlich mein Biss, der sie gerade eben tötete. Es hatte seinen Grund warum die Lykae uns Vampire hassten, dachte ich stumm. „Komm. Wir dürfen keine Zeit verlieren.", bat ich sie. Da es zu einer Diskussion kommen würde, widersprach ich ihr nicht. Die Zeit hatten wir nicht. Wenn ich ihr Leben gerettet hatte, konnten wir uns noch immer darum streiten wer die Schuld trug, wobei die Antwort für mich längst feststand. Corinne nickte, widersprach mir aber trotzdem, während sie vorrauslief und sich im Gehen mir zuwandte: „Du bist nicht schuld."
„Corinne", seufzte ich. „Ich hätte nicht die Kontrolle verlieren dürfen, unter keinen Umständen." Ich wollte sie nicht mit meiner Schuld belasten. Dafür blieb keine Zeit und womöglich würde Corinne nicht mehr lange schmerzfrei sein. Ich wollte sie bei Zarek abgeben, damit dieser ein Auge auf sie haben könnte, sollte sich ihr Zustand in der Zeit, in der ich nach einer Lösung suchte, verschlechtern, würde sie bei ihm in guten Händen sein. Zumindest hoffte ich das.
„Corinne, Maxim!", begrüßte uns Zarek gut gelaunt als wir die Küche betraten. Er sah nicht auf als wir rein kamen, sondern packte seine Einkäufe in den Kühlschrank. „Ihr hättet wenigstens duschen können!", meinte er den Kopf immer noch hinter der metallenen Tür verborgen. Er war ein Lykae, natürlich roch er was wir getan hatten. Unter normalen Umständen hätte ich ihm Recht gegeben, doch die Umstände waren anders. Sie waren äußerst dringend. Unruhig sah Corinne zu mir. Sanft drückte ich ihre Hand und holte noch ein letztes Mal Luft. „Du musst auf Corinne aufpassen. Ich habe sie gebissen und ihre Haut verfärbt sich jetzt schwarz.", erklärte ich die Situation kurz und schmerzlos. Ein Glas zersprang auf den Küchenfließen, mitten in dem Gemisch aus Scherben und Marmelade fiel die Salami. Die Kühlschranktür wurde so kraftvoll zu geworfen, dass der Inhalt schepperte. Im nächsten Moment hing ich zehn Zentimeter über dem Boden. Zarek drückte mich würgend an den Türrahmen.
„Du hast was getan?" Seine Klauen stachen in meine Haut, die Zähne waren schärfer und über seinen Schultern ragte sein Wolf auf. Seine Augen durchbohrten mich mit der schieren Lust, mich an einem qualvollen Tod sterben zu lassen. In diesem Moment hatte ich keine Chance gegen den Lykae, selbst wenn ich gewollt hätte. Die Stärke, die er besaß, ließ ihn mir gegenüber wie ein Wolf im Schafspelz erscheinen. Dabei hatte ich schon immer gespürt, dass er stark war. Doch es war überwältigend und hatte nichts mit dem kleinen Übungskampf zu tun, den wir vor nicht einmal so langer Zeit geführt hatten. Ich wehrte mich nicht, denn ich hatte nichts anderes verdient. „Lass ihn runter, Zarek. Es ist meine Schuld.", verlangte Corinne von ihrem Bodyguard und trat mit sorgenvoller Miene näher. Ihre Haltung wirkte angespannt und zugleich unsicher. Sowie sie aussah schien sie hin- und hergerissen zu sein, ob sie ihren Bodyguard angehen sollte oder nicht. Zarek knurrte und nun knurrte auch Corinne. Die Stimmung im Raum kippte einmal mehr. Zarek konzentrierte sich nun wesentlich mehr auf seinen Schützling als auf mich, der Griff an meiner Kehle lockerte sich. Ich hätte ihn locker loswerden können, doch ich verhielt mich ruhig. Eine falsche Bewegung meinerseits konnte die Situation eskalieren lassen. Und auch wenn Corinne die Prinzessin der Lykae war, sie war Zarek zweifellos unterlegen. Mit zu Schlitzen verzogenen Augen studierte Zarek aufmerksam Corinnes Gesicht. Fast schien es mir, als würden beide eine lautlose Unterhaltung austragen. „Sie hat dich zuerst gebissen.", stellte Zarek auf einmal an mich gewandt fest und rutschte mit seinem Griff an meinen Hals höher, um den Biss zu sehen. Seine Stimme klang tatsächlich ruhiger. „Wie lange ist es her, dass ich euch erklärt habe, dass es euch töten kann?" Die Frage war rein rhetorisch. Selbst wenn ich genügend Luft zum sprechen bekommen hätte, hätte ich den Mund nicht aufgemacht. Zareks Seufzen war müde und schwer. Plötzlich kam ich mir wie ein vierjähriger vor, der von seinem Vater getadelt wurde. „Mir hätte klar sein sollen, dass ihr es nicht schafft. Ihr seid Gefährten.", murmelte er dann. Seine Worte waren eine Mischung aus Verzweiflung und Verachtung. „Verdammt.", nachdem er noch einen Moment fester zudrückte, ließ er mich los. Sein Wolf verschwand und Corinnes Armen fielen locker an ihrer Seite hinab. „Wie schlimm ist es?", wandte er sich an die schöne Lykae, die tatsächlich für mich gegen ihren Leibwächter gekämpft hätte. Ohne die Spur eines Zögerns lief er auf sie zu und kippte ihren Kopf zur Seite, um die Stelle des Bisses zu mustern. „Das sieht aus wie ein Muster oder ein Symbol.", stellte er verwirrt fest und sah fragend zu mir, so als wollte er sicher sein, dass seine Augen ihm da keinen Streich spielten „Ja.", stimmte ich deshalb knapp zu. „Macht das ein Unterschied?", hakte ich nach. „Ich weiß es nicht." Zarek presste die Lippen nachdenklich aufeinander. „Du willst zu den Vampiren, oder?", erkundigte er sich. „Ja.", bestätigte ich mit einem einfachen Nicken. „Finde Tamara", verlangte er. „Wenn jemand etwas weiß, dann sie. Die anderen sind zu jung oder haben keine Ahnung. Tamara hingegen ist quasi eine wandelnde Bibliothek. Sie spricht mit Sicherheit zwanzig Sprachen und beschäftigt sich nur mit den alten Legenden. Deswegen ist sie auch so angesehen, abgesehen von ihren Brüdern. Sie weiß bestimmt etwas." Ich war mir nicht sicher, ob er es sich selbst, Corinne oder mir versichern wollte. Aber das spielte keine Rolle. Wenn Zarek glaubte, dass diese Vampirin uns helfen könnte, dann würde ich sie finden und befragen.
„Pass auf sie auf!", bat ich Zarek. Dieser nickte grimmig.
Ich zögerte einen Moment und sah Corinne in die Augen. Noch schien bis auf das schwarze Mal alles gut, doch ich wusste nicht wie es aussehen würde, wenn ich wieder kam. Kurz entschlossen translozierte ich mich zu Corinne, drückte meine Lippen auf ihre und verschwand mit einem geflüsterten „Ich liebe dich!" in Kyles Wohnung.

Wildes Blut [02]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt