Ewigkeiten

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„Hast du Schmerztabletten dabei?", fragte Harry und setzte sich mit einem Ächzen auf die Couch. Louis nickte und holte aus der Küche ein Glas Wasser, das er Harry zusammen mit der Pillendose reichte. „Du hast eine wirklich schöne Wohnung", stellte er fest und ließ den Blick über die großen Fenster und die Einrichtung schweifen. „Danke. Ich bin erst seit eineinhalb Jahren hier eingezogen kurz bevor mein Ex...naja bevor wir zusammengezogen sind." Mit großen Augen sah Louis ihn an: „Ach, der hat hier gewohnt? Der Arme...ich meine, eine Trennung ist immer blöd und wenn man sich dann auch noch eine Wohnung teilt..." - „Wem sagst du das?", seufzte Harry, stellte das Glas auf den Wohnzimmertisch und lehnte sich zurück. „Sag mal, kann ich die Orthese ausziehen, wenn ich auf der Couch liege? Sie juckt." Louis nickte und Harry löste die Klettverschlüsse, die das Gestell am Bein fixierten. Louis beobachtete ihn dabei und als Harry seinen Blick bemerkte, sagte er: „Was ist los?" - „Ich wollte fragen, ob ich die nächsten Tage hier bleiben kann. Ansonsten wohne ich ja im Hotel, aber wenn du nichts dagegen hast, dann könnte ich hier schlafen und würde mein Zimmer schon wieder abgeben." Natürlich war Harry damit einverstanden. Allein der Gedanke daran, dass Louis am Abend zurück ins Hotel fahren würde, hatte seine Stimmung schon ein wenig getrübt, daher freute er sich natürlich sehr, dass Louis bleiben wollte. „Prima, dann mache ich mich kurz auf den Weg zum Hotel und bin in 20 Minuten wieder da. Hältst du es solange ohne mich aus?" - „Ich hab drei Jahre ohne dich ausgehalten, da schaffe ich die kurze Zeit auch noch", gab Harry zurück und legte sich eine Decke über die Beine. Louis zog seine Jacke wieder an und kam dann zurück zum Sofa um ihm einen Kuss zu geben. „Bis gleich."

Louis brauchte deutlich länger, als 20 Minuten, um wieder hier zu sein, was sicherlich dem Kongress zu verdanken war. Harry hatte in der Zwischenzeit den Fernseher eingeschaltet und sah sich einen Bericht an, der über ebendiesen Kongress informierte. Sie blendeten auch einen Teil von Louis Vortrag ein und Harry war froh so wenigstens einen Teil davon zu Gesicht zu bekommen. Souverän und selbstbewusst stand Louis auf dem kleinen Podest im Vortragsraum und sprach zu den vielen Kollegen, die alle interessiert lauschten. Woher hatte er nur dieses Selbstbewusstsein bekommen? Wenn Harry sich den Louis in Erinnerung rief, den er als Schüler gehabt hatte, dann schien das eine vollkommen andere Person zu sein. Unglaublich, wie sehr er sich doch verändert hatte und doch war er derselbe geblieben. Nach dem Bericht folgte noch eine Doku über das St Elizabeth Hospital, das die BBC vor etwa einem Jahr gedreht hatte. Harry erinnerte sich noch gut an das Kamerateam, das eine ganze Woche immer wieder durch die verschiedenen Abteilungen gegangen war und alles mitgefilmt hatte, was ihnen vor die Linse gekommen war. Er selbst war nicht sonderlich scharf darauf gewesen, vor die Kamera gezerrt zu werden, hatte aber leider in seiner Funktion als Oberarzt ein Interview geben müssen und natürlich wurde auch das ausgestrahlt. Mit schiefgelegtem Kopf sah Harry sich selbst auf dem Bildschirm an: wie kurz seine Haare damals noch gewesen waren und wie seltsam er klang, wenn er sprach. Das war ungewohnt. Er griff nach der Fernbedienung und drehte den Ton leiser, sodass er sich nicht mehr hören konnte und wartete darauf, dass sein Part vorbei war und er wieder lauter drehen konnte. Sein Bein fühlte sich noch immer wie ein Fremdkörper an und er holte sich aus der Küche ein kühlendes Gel Kissen, das er sich aufs Knie legte. Weil er die unbequeme Jeans ausgezogen hatte, drang die Kälte durch die Decke gut durch und war sehr angenehm. Interessiert sah sich Harry die Nähte an, die Louis gemacht hatte und freute sich, als er erkannte, dass er genau dieselbe Technik beim Ansetzen der Schnitte benutzt hatte, wie er selbst es immer tat. Scheinbar hatte er doch ein bisschen etwas von ihm übernommen. Wie er so dasaß und sich seine Narben ansah, kam ihm ein Gedanke. Irgendwie wollte er Louis überraschen, wenn er wieder zurück kam und er wusste auch, wie. Rasch angelte er sich das Telefon vom Tisch und wählte die Nummer seines Bekannten.

„Sorry, dass es so lange gedauert hat, aber der Verkehr war...Harry?", Louis kam zurück in die Wohnung, zog die Tür hinter sich zu und sah eine leere Couch im Wohnzimmer. „Ich bin im Badezimmer!", rief Harry und drückte die Toilettenspülung. Er hatte sich ohne Krücken dorthin gewagt und tappte nun mit einer Hand an der Wand und sehr langsam durch den Flur zurück. „Wow, du bist ohne Krücken unterwegs", freute sich Louis und strahlte ihn an. „Und ohne Hose auch, wie ich sehe..." - „Ja, es war unbequem in Jeans auf der Couch zu liegen." Louis Blick huschte kurz von seinem Bein über die Körpermitte und dann hoch zu seinem Gesicht. „Soso, unbequem? Bist du sicher, dass nur mir nicht einfach nur deine Beine präsentieren wolltest?", fragte er nach und kam langsam auf Harry zu. „Du hattest doch genug Zeit, dir meine Beine im OP anzusehen", warf Harry ein, als Louis direkt vor ihm stand und die Zunge neckisch zwischen die Zähne geschoben hatte. „Nein mein Freund. Ich war zu sehr mit dem Inneren deines Knies beschäftigt, als dass ich mich noch um deine Beine hätte kümmern können", konterte er und Harry lachte kehlig. „Du bist wirklich verdammt schlagfertig. Wo hast du das denn gelernt?" - „Keine Ahnung, aber ich hatte mal einen Chef, der anfangs echt ein Arsch war...vielleicht hab ich mir da ein bisschen was abge..." Harry hob einen Finger an Louis Lippen und brachte ihn so zum Verstummen. „Warte hier, ich zieh mir meine Hose wieder an und dann müssen wir los. Ich hab eine Überraschung für dich", sagte er verschworen und tappte zum Sofa zurück. Louis ließ er überrascht stehen. „Wohin gehen wir?" - „Lass dich überraschen und lass die Jacke noch an. Ach und tu mir bitte den Gefallen und nimm diese Tasche mit, die ich gepackt habe. Ich kann sie mit Krücken nicht tragen." Verwirrt, aber neugierig grinsend, kam Louis dieser Bitte nach und folgte Harry dann aus der Wohnung.

„Wohin muss ich fahren?", fragte er, als sie wieder im Wagen saßen und er ihn gestartet hatte. „Ich lotse dich. Erstmal auf die Hauptstraße und dann zwei Kilometer geradeaus", fing Harry an und Louis fuhr los. Unterwegs sah Harry immer wieder verstohlen auf sein Handy und lotste Louis zur Ablenkung in alle möglichen Richtungen. Er sollte keinen Verdacht schöpfen. Erst als eine SMS eintrudelte, ließ er ihn den richtigen Weg einschlagen und bald kamen sie in eine Straße, die ihnen sehr bekannt vorkam.

Es war gefühlt eine Ewigkeit her gewesen, seit sie hier gewesen waren, doch Louis erkannte den Ort sofort wieder und drehte sich irritiert zu Harry um, als er die blauen Regenrinnen erkannte.

3 Years • Part IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt