Sechzehntes Kapitel

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„Samuel?", murmelte ich verwirrt und starrte auf die Stelle, an der eben noch der Mann gestanden hatte. Der Mann, der eben vor uns weggelaufen war. Dessen war ich mir absolut sicher. Doch anstatt auf mich zu reagieren, holte Samuel nur tief Luft, murmelte etwas, was ich nicht verstehen konnte und rannte diesem Fremden kurzentschlossen hinterher.

„Samuel!", schrie ich diesmal lauter als zuvor. Er konnte mich nicht einfach so alleine lassen! Panisch setzte auch ich mich in Bewegung, während mir tausend Gedanken durch den Kopf schossen. Was dieser Kerl wirklich der Vermisste, oder war er doch jemand anderes? Aber wer? Und wieso rannte er vor uns weg? Dachte er vielleicht, dass wir Eingeborene wären und hatte Angst vor uns? Aber wir sahen gar nicht aus wie Einheimische. Oder stärkte er nur meine Theorie, dass unser Verschwinden im Dschungel kein Zufall gewesen war und es jemand auf uns abgesehen hatte? Aber wieso? Ich konnte mir nur vorstellen, dass es an Samuel lag. Er musste mir also etwas verschweigen. Etwas, was von Bedeutung war. Der Grund dafür, wieso wir hier waren. Denn wer sollte mir schon schaden wollen? Bis auf ein paar Schulzicken hatte ich mit niemandem Probleme gehabt und die konnte ich wohl mit Sicherheit ausschließen. Also konnte es nur etwas mit ihm zu tun haben. Aber nein, da ging bestimmt nur meine Fantasie mit mir durch. Samuel hatte vermutlich recht und mein Gehirn dachte sich irgendwelche Horrorgeschichten aus. Oder? Ich steckte im Zwiespalt, wusste nicht mehr, was ich denken sollte und ob ich auf mein eigenes Gefühl vertrauen konnte. Machte der Dschungel mich vielleicht wirklich verrückt? Nach so kurzer Zeit?

Während Samuel weiterhin schnurstracks in die Richtung, in die der Mann gerannt war, lief, versuchte ich schwer atmend, ihm hinterher zukommen. Ich war mir nicht einmal mehr sicher, ob wir auf dem richtigen Weg waren. Immerhin war der Blick, den man hier bekam nicht sehr weitläufig und wir hatten nicht gesehen, ob der Fremde an einer Stelle abgebogen war.

„Samuel, bleib doch bitte mal stehen", keuchte ich erschöpft und wischte mir im laufen den Schweiß von der Stirn. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir ihn fanden, wurde immer geringer, zumal, weil er ganz offensichtlich gar nicht gefunden werden wollte, was an sich ja schon äußerst merkwürdig war. Ich an seiner Stelle wäre froh, gefunden zu werden und zu dritt zu sein, wäre vermutlich auch gar nicht so übel. Zumindest war ich dann nicht mehr mit Mr. Ich-bin-ja-so-toll-und-du-mal-nicht alleine. Wie zu erwarten hetzte er trotzdem weiter, schien gar keine Notiz von mir zu nehmen, bis ich ihn so weit eingeholt hatte, dass ich nach seinem Arm greifen konnte und er mich endlich wahrnehmen musste. „Bleib. Endlich. Stehen." Ich schnappte nach Luft und versuchte, meine Atmung zu normalisieren. Mochte ja sein, dass er so einen Marathon durch den Dschungel verkraften konnte, ich aber nicht. „Seh es ein, wir haben ihn verloren", sagte ich, noch immer völlig aus der Puste. Samuel kam zum Stehen und sah mich eindringlich an. Zuerst dachte ich, er würde mir sonst etwas vorwerfen, doch er nickte, was ihm sichtlich schwerfiel.

„Möglicherweise hast du recht", meinte er, sah mich dabei allerdings nicht mehr an und knirschte sogar mit den Zähnen. Das musste er echt nochmal üben. Sein Blick richtete sich dann nach oben, auf irgendeinen imaginären Punkt. Zumindest glaubte ich das, ehe er zu lächeln begann. „Sei still und guck nach oben", flüsterte er ganz leise und streckte blind seine Hand nach mir aus. Seine warmen Finger streiften meine Haut und seltsamerweise bemerkte ich, dass ich den Atem anhielt und kurz zu glauben schien, er würde meine Hand nehmen, doch dann zog er sie wieder zurück und nickte vorsichtig mit dem Kopf nach oben. Verwirrt folgte ich seinem Blick und mein Herz machte vor Freude einen mächtigen Hüpfer. Über uns, auf einem dünnen Ast, saß ein hübscher, blau gelber Vogel und sah dem Anschein nach Samuel an. Sein Gefieder schimmerte im fahlen Sonnenlicht, das durch die Blätter fiel und ließ ihn noch schöner wirken, als er ohnehin schon war.

„Oh mein Gott", murmelte ich ehrfürchtig, um ihn nicht zu verschrecken. „Ist das ein Kolibri?"
Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, dass Samuel sanft den Kopf schüttelte. „Nein, die gibt es hier doch gar nicht. Das ist ein Nektarvogel. Allerdings sieht er einem Kolibri sehr ähnlich." Fasziniert beobachtete ich dieses kleine Vögelchen, der das selbe zu tun schien und uns neugierig entgegenblickte. Nach ein paar Sekunden allerdings breitete er seine Flügel aus und flog davon. Immer noch gebannt sah ich zu Samuel, auf dessen Gesicht sich ein Lächeln geschlichen hatte. Ein echtes, wahrhaftiges Lächeln. Was so ein kleiner Vogel ausrichten konnte ...

Als er sich jedoch wieder zu mir umdrehte, verschwand dieses schnell wieder. Ich konnte nicht sagen, wieso, aber seltsamerweise war ich traurig darüber. Puff und weg war der schöne Moment. Der womöglich schönste, den ich im Dschungel gehabt hatte.
„Warum ist dieser Kerl einfach so abgehauen?" An der Art wie er es sagte, wusste ich nicht, ob die Frage überhaupt an mich gerichtet war oder ob er sie in die Leere gestellt hatte.

„Ich weiß es nicht", antwortete ich trotzdem wahrheitsgetreu und starrte auf die Stelle, wo eben noch der Nektarvogel gesessen hatte. Zu unserem Interesse, behielt ich meine Spekulationen ausnahmsweise für mich.
„Ich verstehe es einfach nicht mehr, Julia." Sein Blick ruhte auf mir, das spürte ich, dennoch mochte ich mich nicht zu ihm umdrehen, auch wenn ich nicht genau sagen konnte wieso. Vielleicht, weil ich Angst hatte, von seinem Blick enttäuscht zu werden. Jetzt, wo gleich zwei Momente miterleben durfte, in denen er glücklich schien und nicht diese verhärtete Mine aufgesetzt hatte. Sachte zuckte ich mit den Schultern und dachte über seine Worte nach. Samuel war also genauso ratlos wie ich. Das machte die Sache schlimmer.

„Ich weiß nicht mehr weiter", gestand er dann, was ebenfalls ein Satz war, den ich nicht gerne hören wollte. Etwas in seiner Stimme brachte mich dazu, mich aus meinen Gedanken zu reißen und mich doch noch zu ihm umzudrehen. War es die Verletzlichkeit, die er plötzlich ausstrahlte? Samuel, der, der so unerschütterlich wirkte und beinahe alles auf die leichte Schulter nahm? Woher kam diese Verwundbarkeit?

„Mir geht's genauso", gab ich zerknirscht zu und zuckte mit den Schultern.
Da standen wir nun. Zwei Menschen, die dummerweise zusammen im Dschungel verloren gegangen waren. Und die beide nicht mehr wussten, was sie glauben sollten. Bravo.
„Wir sollten etwas zu Essen besorgen", sagte Samuel dann und lenkte mich somit kurzzeitig ab. Zustimmend nickte ich und folgte ihm. Was er wohl sammeln wollte? Doch mittlerweile war mir das sogar fast egal. Mein Magen knurrte und Durst hatte ich auch schon wieder. Vielleicht konnten wir ja doch noch irgendwo Wasser besorgen. Achtsam ließ ich meinen Blick durch die grüne Landschaft streifen und suchte mit meinen Blicken nach etwas, was essbar, allerdings nicht knallrot aussah. Doch hier waren nur Lianen, Pflanzen und so hohe Bäume, dass ich bei einigen von ihnen nicht einmal die Baumkronen erkennen konnte. Dieser Blick war wunderschön und würde ich nicht in so einer misslichen Lage stecken, könnte ich mich daran wohl auch nicht sattsehen. Und hätte ich nicht so sorgfältig nach Nahrung gesucht, wäre mir dieser Gegenstand, der hier offensichtlich nicht hingehörte, wohl auch gar nicht aufgefallen. Augenblicklich blieb ich stehen, zuerst, ohne zu wissen, wieso überhaupt. Doch scheinbar hatte mein Unterbewusstsein schneller registriert, dass etwas hier nicht stimmte.
„Samuel, da steckt ein Pfeil im Baum."

Aufbruch ins UnbekannteDonde viven las historias. Descúbrelo ahora