Sechsundzwanzigstes Kapitel

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In dem Moment, wo Samuel den Kuss erwiderte und mit seiner Hand meinen Kopf an sich drückte, kam mir nicht im Ansatz der Gedanke, dass ich mein Handeln bereuen könnte. Wie könnte ich auch? Dieser Kuss war der Inbegriff von Abenteuer. Leidenschaftlich und irgendwie verboten und das an einem Ort, der so gefährlich wie wunderschön war. Erst, als er sich von mir löste, grinste und andeutete, etwas sagen zu wollen, fragte ich mich, ob es das Richtige gewesen war.

„Geht doch", sagte er und nickte selbstzufrieden. Mir blieb die Luft weg. „Du darfst ruhig atmen", lachte er, weil er mein plötzliches Stocken der Atmung wohl falsch interpretiert hatte.
„Geht doch? Wirklich, Samuel?", schimpfte ich und schüttelte fassungslos und enttäuscht den Kopf. In einem Moment war beinahe alles perfekt und im anderen war er bereits verpufft und ließ mich wütend zurück. Was ging in diesem Kerl bitte vor?

„Leg nicht jedes Wort auf die Goldwaage, Mädchen." Er schien sich ein Lachen kaum verkneifen zu können. „Hier", sagte er und reichte mir die Schokolade, vermutlich zur Versöhnung, was ich natürlich nicht wollte, aber in unserer Situation sollte man Schokolade nicht ablehnen, also griff ich danach.

„Na siehst du", zwinkerte er mir zu, woraufhin ich genervt die Augen verdrehte und aufstöhnte.
„Was passiert jetzt?", fragte ich, um das Thema schleunigst zu wechseln und sah mich um. Von dem Typen war weit und breit keine Spur. Zudem schienen keine neuen Pfeile hinzugekommen zu sein, die uns irgendwohin führen sollten. Würden nachher vielleicht noch welche kommen? Oder war es das jetzt?

„Keine Ahnung", antwortete Samuel mir ehrlich und zuckte unentschlossen mit den Schultern. „Ich schätze, wir müssen abwarten. Etwas anderes wird uns nicht übrig bleiben." Schien ihm irgendwie auch egal zu sein. Ungeduldig riss er an einer Packung Kräcker herum, die er nicht auf bekam.
„Gib her", seufzte ich, nahm sie ihm ab und öffnete sie mit einem Ruck. Doch statt sie ihm sofort wiederzugeben, nahm ich mir erst einmal ein paar heraus, was er an meiner Stelle sicherlich genauso getan hätte.
„Gute Manieren hast du", zischte er und ich lächelte kokett.

„Ich guck mir einiges im Dschungel hier ab", erwiderte ich und steckte mir welche davon in den Mund. Schweigend aßen wir ein paar davon und packten den Rest aufgeteilt in unsere Rucksäcke. Keiner von uns traute dem anderen so richtig, als dass einer alle Kräcker hätte verwahren dürfen. Dann starrte ich auf den zerschlissenen Rucksack.
„Und was machen wir jetzt damit?", fragte ich und deutete darauf. Den würde ich sicherlich nicht tragen. Samuel hob ihn hoch und schüttelte ihn, allerdings flatterte da kein Zettel oder sonst irgendetwas heraus, was uns noch einen Schritt weiter gebracht hätte.

„Wir lassen ihn hier", entschied er spontan und richtete den Blick auf mich, als ob er eine Bestätigung erwartete. Die würde er von mir allerdings nicht bekommen.
„Bist du sicher, dass das so klug ist?", fragte ich unsicher. Ich war dafür, dass wir ihn lieber mitnahmen. Nicht, dass wir diesen Kerl noch unnötig verärgerten. Unschlüssig kaute ich auf meiner Unterlippe herum und versuchte herauszufinden, was die beste Möglichkeit war.

„Ja." Scheinbar wurde mir diese Entscheidung abgenommen, als Samuel das Teil gradlinig in die dunkle Hütte zurücktrat. Damit stand es wohl fest. Er würde hierbleiben. Rausholen würde ich den Rucksack auf jeden Fall nicht mehr, auch wenn sich, laut Samuel, nichts weiter in der Hütte befand.
„Na schön", sagte ich und klatschte einmal in die Hände. „Auf geht's."

Wir irrten Stunde um Stunde durch den Wald. Unser Glück war, dass wir genug Flüssigkeit hatten. Jedenfalls noch. Es war viel zu heiß und wenn wir nicht dehydrieren wollten, mussten wir trinken. Hoffentlich würde es bald wieder regnen, damit wir frisches Wasser bekamen. Die Sorge um diese einfache, sonst so selbstverständliche Flüssigkeit war erschreckend. Meine Gedanken kreisten ständig darum. Ein weiteres Problem an den Stunden, die ich mit Samuel lief, ohne, dass etwas passierte, war, dass ich Zeit zum Nachdenken hatte. Zweimal hatten meine Lippen nun seine berührt. Einmal hatte ich nichts dafür gekonnt und es sofort abgebrochen, einmal war ich selbst Schuld. Das schlechte Gewissen nagte an mir und schien mich nicht mehr loslassen zu wollen, auch wenn mir durchaus bewusst war, dass ich weitaus größere Probleme zu bieten hatte als das. Doch ich hatte Lukas und ich liebte ihn. Oder? Sollte ich überhaupt jemanden lieben, der sich mir gegenüber so verhielt? Und was war mit Samuel? Warum hatte ich das Bedürfnis gehabt, ihn zu küssen? Aber was noch viel wichtiger und drängender war: Warum wollte ich es wieder tun? Und das unbedingt.

Verstohlen sah ich ihn von der Seite an und fragte mich, was er wohl darüber dachte, ob er überhaupt daran dachte. Schließlich mussten wir uns um unsere Befreiung aus dem Dschungel kümmern und für ihn könnte es nur ein Spiel, eine nette Ablenkung zwischendurch gewesen sein. Und seine Ex? Hing er noch an ihr oder war er bereits über sie hinweg? Wütend schüttelte ich den Kopf über mich und gab mir eine imaginäre Ohrfeige. Über so etwas durfte ich nicht einmal nachdenken! Nichtmal ein klitzekleines bisschen. Was ging mich das auch schon an? Interessieren brauchte es mich auch nicht. Doch offenbar hatte der Dschungel und die Hitze schon seine Spuren bei mir hinterlassen.

Plötzlich blieb Samuel stehen und irrwitzigerweise bildete ich mir ein, er hätte mitbekommen, womit ich mich eben noch beschäftigt hatte und lief rot an, auch wenn das völliger Blödsinn war.
„Was genau versuchen wir hier jetzt eigentlich?" Samuel sah mich abwartend an, eine Augenbraue hochgezogen. „Wollen wir diesen Kerl finden oder hier raus?"
Entgeistert erwiderte ich seinen Blick. Jetzt war es mal an mir, ihn für bescheuert zu erklären. „Hier raus natürlich!", sagte ich energisch und fuchtelte wild mit meinen Armen. „Du spinnst doch wohl, die Suche nach dem Typen über unser eigentliches Ziel zu stellen." Samuel hob nur abwehrend die Hände und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Ob er wirklich überlegt hatte, die Prioritäten anders zu setzen?

„Wollte nur sichergehen." Ich seufzte. Dieser Kerl war unschlagbar.
„Aber scheinbar wird das mit der Zivilisation nichts, solange wir nicht wissen, was dieser Typ von uns will." Bei seinen Worten fanden ein paar Tränen den Weg über meine Wange, was Samuel zu bemerken schien.
„Hey, nicht weinen", sagte er beschwichtigend und trat von einem Fuß auf den anderen. Offenbar wusste er nicht so recht, was er tun sollte, was mich allerdings auch nicht davon abhielt, meinen Tränen freien Lauf zu lassen, auch wenn ich es eigentlich gar nicht wollte. Es war nicht das erste Mal, dass ich vor ihm weinte, aber es war das erste Mal nach unserem Kuss, was die Sache umso unangenehmer machte. Schniefend wischte ich mir mit dem Ärmel übers Gesicht und hoffte, dass ich nicht allzu verheult aussah. Mein Gesicht wurde immer schnell rot. „Wir müssen hier raus finden. Es ist schon schlimm genug, dass wir uns verlaufen haben, aber jetzt auch noch so etwas? Womit haben wir das verdient?" Samuel streckte den Finger nach mir aus und erst wollte ich verwirrt zurückzucken, als mir klar wurde, was er vorhatte. Sanft wischte er mir über mein immer noch tränennasses Gesicht.
„Dir wird nichts passieren, Julia. Das verspreche ich."

Aufbruch ins UnbekannteWhere stories live. Discover now