Siebtes Kapitel

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Leere.
Das war das einzige, wozu ich in der Lage war, es zu fühlen. Leere. Und sie war erschreckend.
Seit Samuel mir gestanden hatte, dass wir uns gnadenlos verlaufen hatten, hatte ich kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Wie hatte er das nur zulassen können? Ich meine, er hätte doch gelernt haben müssen, wie man sich im Dschungel verhielt und wie man es eben nicht tat. Ich für meinen Teil hatte keine Ahnung, aber woher denn auch? Ich war eine frisch gebackene Abiturientin, eine Träumerin, jemand, der sich weniger Gedanken machte und eher auf sein Herz hörte. Nur hatte mein Herz mich in diese missliche Lage gebracht. Dankeschön.

Schon seit Stunden irrten wir durch diesen Dschungel und ich fragte mich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis wir endlich wieder auf das Lager trafen. Ich meine, wir waren hier ja nicht gerade in Sicherheit. Ich räusperte mich. „Sag mal Samuel, bei welchen Tierarten hier sollten wir hoffen, ihnen lieber nicht zu begegnen?", fragte ich unsicher. Meine Stimme klang ganz rau und mein Hals fühlte sich kratzig und trocken an. Ich hatte zwar noch eine halbe Flasche Wasser, aber die sollte ich mir lieber für später aufheben. Schließlich wusste ich ja nicht, wie lange das hier noch dauern würde.
„Bei allen", gab er als Antwort, was mich jäh stocken ließ.

„Wirklich?", fragte ich und sah mich ängstlich um. Dass es mittlerweile schon fast dunkel war und man kaum noch etwas erkennen konnte, machte das alles nicht gerade besser.
„Nein", murmelte er und ich atmete erleichtert auf. „Ich meine vor ... vor Paradiesvögeln musst du natürlich keine Angst haben." Er wirkte abwesend und nicht ganz bei der Sache. Verwirrt starrte ich ihn an. „Oh Gott", stöhnte er und schüttelte den Kopf. „So ein Ding wie bei Pocahontas, dem Disneyfilm."

Ich schnappte nach Luft. „Ich weiß was ein Paradiesvogel ist! Außerdem ist es bei Pocahontas ein Kolibri und die gibt es nur in Amerika", erwiderte ich und war stolz, dass ich auch etwas wusste.
„War ja klar, dass das Kind sich besser mit Disney auskennt, aber egal", winkte er ab und forderte mich auf, weiterzugehen. Ich hatte gar keine Zeit, mich über seinen Kommentar aufzuregen, denn er sprach sogleich weiter. „Die Insekten, Spinnen und so weiter, also die kleinen Tiere, machen den größten Teil hier aus und einige davon sind tödlich. Trotzdem müssen wir uns auch vor den Säugetieren in Acht nehmen. Es wäre nicht so gut, würden wir Waldelefanten oder Primaten begegnen, auch wenn sie wunderschön sind. Allerdings sind die Tiere nicht unser einziges Problem."

Ich schluckte. Elefanten, Affen, die hatte ich unbedingt sehen wollen, doch mittlerweile wünschte ich mir, ich würde ihnen nicht über den Weg laufen. Aber was meinte er? Welches Problem hatten wir noch?
„Und was wäre die andere Gefahr?", fragte ich und hatte gleichzeitig Angst vor der Antwort, die er mir gleich geben würde.

„Völker", antwortete er prompt und schlug ruckrtig ein großes Blatt beiseite.
„Völker?!", rief ich aus und holte Samuel mit großen Schritten ein. „Das ist nicht wahr oder?"
Unbeeindruckt ging er weiter.
„Natürlich ist es das. Wir achten immer darauf, dass wir dort forschen, wo keine Menschen leben, aber wie ich bereits sagte, habe ich keine Ahnung, wo genau wir uns gerade befinden. Wobei wir auch nicht allzu weit von unseren Gebieten entfernt sein können. Ich bin mir aber nicht einmal sicher, ob wir in die richtige Richtung laufen."

„Die anderen suchen sicherlich schon nach uns", murmelte ich, war mir dessen aber gar nicht so sicher. War ihnen überhaupt aufgefallen, dass wir weg waren? Wobei ... Samuels Abwesenheit müssten sie bemerkt haben und spätestens, wenn Allison schlafen ging und mich nicht in meinem Bett vorfand, müsste sie schon etwas ahnen. Ein paar Tränen rannen mir über die Wangen, als ich an mein zu Hause dachte. An Mom. An Dad. An Lukas. Bei dem Gedanken an meinen Freund, zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Was machte er wohl gerade? Dachte er auch an mich? Sie alle wussten von dem hier gar nichts und glaubten, ich würde hier sicher sein. Würden sie benachrichtigt werden, falls man uns nicht schnell fand?
Mom.

„Liv, du bist erwachsen und ich finde durchaus, dass du deine eigenen Erfahrungen machen solltest, aber meinst du nicht auch, ein Dschungel ist ... viel zu gefährlich dafür? Fliege doch lieber mit Lukas zwei oder drei Wochen in den Urlaub und fang dann an, dich um ein Studienplatz zu kümmern. Das ist auch ein Abenteuer." Mom legte behutsam eine Hand auf meinen Arm und sah mir direkt in die Augen. Ihre waren voller Schmerz und Sorge, doch das war mir egal. Der Dschungel war genau das, was ich wollte, was ich brauchte um zu leben, mich wirklich lebendig zu fühlen.

„Noch kannst du dich umentscheiden. Es sind noch ein paar Tage, bevor es losgeht. Ich kann auch für dich anrufen, wenn dir das unangenehm ist, mach ich sofort." Doch ich schüttelte entschieden den Kopf.
„Ich werde fliegen, Mom und du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Es wird nicht wie bei dir sein. Ich werde nicht auf einer mehr oder weniger einsamen Insel stranden."
Mom holte tief Luft und wandte ihren Blick von mir ab.

„Damals hatten wir auch einen Dschungel, Julia. Und dieser hätte uns fast das Leben gekostet. Wir konnten gerade noch fliehen." Seufzend stand ich auf. Mom hatte mit der Insel das Abenteuer ihres Lebens gehabt und beschwerte sich? Bloß weil es dort vielleicht ein paar Einheimische gegeben hatte?

„Ich werde wiederkommen. Heil, gesund, munter und um eine Erfahrung reicher, versprochen."
Ich war schon fast an der Tür angelangt, da stand Mom hinter mir und zog mich zurück. Sie wirkte wütend. Klar, ich machte nicht das, was sie wollte.
„So etwas kann man nicht versprechen, Julia", sagte sie streng.
„Tue ich aber."
Ich wollte gerade raus ins Freie treten, da ging die Tür schon von selbst auf und der Onkel meines Vaters stand vor mir.

„Liv", er nickte Mom zu und wandte sich dann an mich. „Ich habe gehört, was du tun willst, Mädchen." Er war älter geworden, seitdem ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Seine Gesichtszüge wirkten härter, sein Haar war bereits grau meliert und doch würde ich ihn als gutaussehend beschreiben.
„Wahnsinn, Jared, du bekommst ja sonst auch nie was mit", sagte ich. Sein letzter Besuch musste Jahre her sein. Was machte er also hier?
„Wenn du Abenteuer willst, dann mach dort meinetwegen einen Urlaub mit Safari oder so etwas, aber geh nicht in den Dschungel. Das ist nichts für Mädchen wie dich", sagte er, seine Augen wirkten zornig. Er tat ja so, als würde ich ihm irgendetwas bedeuten. „Wenn du meine Tochter wärst, würde ich dich sicher nicht gehen lassen." Jetzt mischte sich etwas anderes in sein Gesicht, was mich zurückzucken ließ. Das war nichts für Mädchen wie mich? Aber ich war kein typisches Mädchen. Ich war anders. Und das sollten sie endlich sehen.

„Lass mich durch", entgegnete ich, doch Jared rührte sich keinen Millimeter.
„Du wirst hierbleiben und mit mir reden", sagte er bestimmend und wollte die Tür hinter sich wieder schließen.
„Ich bin aber nicht deine Tochter. Und du hast auch keine mehr." Mein Magen zog sich zusammen, als sich die Blässe über sein Gesicht zog. Ich wusste, dass seine eigene Tochter als Kind gestorben war und er noch immer nicht darüber hinweggekommen war. Ich hatte also ins Schwarze getroffen. Das wusste ich. Kurz bereute ich das, was ich gesagt hatte, doch sie mussten es einfach verstehen. Ich war einfach kein Baby mehr und wollte auch nicht als solches behandelt werden.
Und dann ging ich.

Aufbruch ins UnbekannteWhere stories live. Discover now