Dreißigstes Kapitel

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Ich ließ ihn gehen. Einfach so. Ohne Widerworte.
Ich wusste nicht, wieso mein Körper sich steif und unbeweglich anfühlte, sodass ich gar nicht in der Lage gewesen wäre, ihm zu folgen, aber ich wäre auch so nicht mitgegangen. Und ich fühlte mich dabei nicht einmal unsicher. Weil ich wusste, dass er zurückkommen würde. Samuel würde sich nicht aus dem Staub machen und mich vergessen, er würde wiederkehren. Und ich war mir auch sicher, dass er sich nicht verlaufen würde. Lähmende Müdigkeit überkam mich und ich setzte mich in die Nähe des Feuers, dorthin, wo ich die Hitze spüren konnte, die von ihm ausging. Mit geschlossenen Augen lauschte ich dem Prasseln und dem Knistern der Flammen und dachte darüber nach, wie Samuel sich verhalten hatte, während ich mir Mühe gab, nicht einzuschlafen. Was war mit ihm gewesen? Und lag es an mir? Mein Herz zog sich krampfhaft zusammen und ich wurde wütend auf mich selbst. Darauf, dass es mir etwas ausmachte. Man konnte sich nicht innerhalb weniger Tage verlieben, wenn man denjenigen zuvor abstoßend gefunden hatte. Das war praktisch unmöglich. Und doch fühlte es sich so an. Oder war es doch bloß Einbildung? Aber wieso tat es dann so weh? Und was war mit Lukas? Lukas. Auf einmal sah ich die Beziehung zu ihm in einem ganz anderen Licht. Wenn er mir nicht einmal drei Monate treu bleiben wollte, hatte er nicht verdient, dass ich es tat. Er war ein Arsch, der selbstsüchtig war und dumm. Konnte sein, dass er schon immer so gewesen war und ich es nur nicht bemerkt hatte. Ich würde es beenden. Sobald ich hier draußen war. Und das hatte nichts mit Samuel zu tun. Jedenfalls nicht nur.

„Hier." Ich zuckte zusammen und ein Schrei entwich meiner trockenen Kehle. „Ich bin es nur", murmelte Samuel genervt und stellte den Rucksack neben mir auf den Boden. Wie lange war er fort gewesen? Offenbar war ich so in meine Gedanken vertieft gewesen, dass ich nicht bemerkt hatte, wie die Zeit vergangen war.

„T ... tut mi ... mir leid", stotterte ich unbeholfen. „Ich war nur ganz in Gedanken und hatte noch nicht mit dir gerechnet", gestand ich und blickte dann auf den Rucksack. Erleichterung mischte sich mit meinen anderen Gefühlen, als ich ihn öffnete und Verbandszeug, Desinfektionsmittel und ein Antibiotikum fand. War das wirklich notwendig? Trotzdem beschloss ich, es einzunehmen, da man hier ja nie wissen konnte. Sicher war sicher. Ganz unten im Rucksack befand sich noch eine Flasche Wasser. Vermutlich für die Tabletten.

„Gib her, das kannst du sowieso nicht", sagte Samuel und griff nach dem Desinfektionsmittel und dem Verbandszeug. Doch statt mich über seine Bemerkung zu ärgern, – zumal er recht damit hatte, ich konnte meinen Oberarm nicht selbst verbinden – wunderte ich mich. Der sonst so zynische Unterton in seiner Stimme blieb aus.

Umständlich und unter Schmerzen schälte ich meinen Arm aus dem Shirt und fühlte mich sofort unwohl. Kurze Sachen waren hier vom Nachteil, wegen der ganzen Tiere. Doch als ich meine Wunde sah, schien mir das plötzlich mein kleinstes Problem zu sein. Sie war nicht sehr groß, aber sie schien noch immer zu bluten und eiterte mittlerweile.

„Das sieht gar nicht gut aus", flüsterte Samuel konzentriert und betrachtete die Stelle prüfend.
„Ach du scheiße", jammerte ich und hätte am liebsten geweint. „Ist das etwa entzündet?"
„Scheint so. Sie müsste eigentlich genäht werden", antwortete er und schnappte sich das Desinfektionsmittel. „Das wird jetzt echt wehtun." Danke.

Innerlich bereitete ich mich auf den Schmerz vor, während eine Träne mir die Wange hinunterrollte und schrie auf, als das Zeug meine Haut berührte und brannte wie die Hölle persönlich.
„Sch, ist gleich vorbei", sagte er liebevoll und wickelte den Verband fest, aber dennoch vorsichtig um die Wunde.
Der Schmerz hallte noch lange nach und hielt mich Stunde um Stunde wach. Samuel war schon völlig genervt von mir, weil ich wollte, dass auch er wach blieb. Konnte er aber auch ruhig machen, fand ich.

„Ich fühle mich sonst allein", murmelte ich, was ihm ein Stöhnen entlockte. Empathie gehörte nicht gerade zu seinen Stärken.
„Mädchen, egal ob ich schlafe oder nicht, ich sitze direkt neben dir!"
„Wenn das so ist, kannst du ja auch mit mir reden", gähnte ich und versuchte meine Schmerzen weitestgehend zu ignorieren, was gar nicht so einfach war, seitdem das Desinfektionsmittel meine Haut verätzt hatte. Zumindest fühlte es sich so an.
„Was kann ich tun, damit du endlich schläfst? Willst du ne' Gute-Nacht-Geschichte hören, oder wie? Oder soll ich dir etwas vorsingen? Mittlerweile würde ich das sogar tun!" So langsam klang er wirklich gereizt. Konnte ich aber auch nichts für, meiner Meinung nach. Schließlich hätte es genauso gut ihn treffen können. Und dann wäre ich definitiv mitfühlender! Ich tat so als würde ich konzentriert überlegen.

„Ja, sehr gerne. Wie wäre es mit der Geschichte? Ich liebe Geschichten!", antwortete ich dann glücklich und drehte meinen Kopf zu ihm. Samuel starrte mich entgeistert an.
„Dein ernst?" Ich nickte. „Und dann pennst du?" Hoffnung schwang in seiner Stimme mit, was mich innerlich auflachen ließ.
„Möglicherweise."
Samuel seufzte theatralisch. „Gut. Okay. Also, es war einmal ein Mädchen, das hieß glaube ich Dornröschen oder so und das ist wegen einer Hexe eingeschlafen und ehm ja ..." Er kratzte sich am Kopf und ich musste mir ein Lachen verkneifen.
„Was ist mit ihr passiert?", fragte ich grinsend.
„Sie ... sie brauchte nen' Wecker." Jetzt konnte ich mich nicht mehr halten. Ich prustete los.
„Einen Prinzen", lachte ich, „sie brauchte einen Prinzen. Und es war auch keine Hexe."
Gleichgültig zuckte er mit den Schultern. „Wie auch immer."

Irgendwann musste ich wirklich eingeschlafen sein, denn ich wachte am Morgen in Samuels Armen wieder auf. Verwirrt sah ich ihn an, doch er schlief noch. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, doch das lag diesmal nicht an seiner Person.
„Samuel", zischte ich und versuchte ihn leicht anzustoßen. Schweiß brach auf meiner Stirn aus und Panik erfüllte mich.
Endlich schlug Samuel die Augen auf.
„Sam", jammerte ich schluchzend und wollte mich von ihm lösen, doch er hielt mich Augenzwinkernd fest. Sollte einer mal diesen Kerl verstehen. „Da ist eine Spinne", schrie ich nun, als sie sich auf seiner Schulter bewegte.

„Scheiße!", rief er aus, ließ mich dann endlich los, sodass ich aufspringen und mich ausgiebig schütteln konnte. In der Zwischenzeit tat Samuel es mir gleich und trampelte panisch auf dem Boden herum.
„War die giftig?", kreischte ich.
„Keine Ahnung!", schrie er zurück und strich über all seine Klamotten. Noch mitten im Schock hörte ich dann das mittlerweile vertraute Zischen eines Pfeils und ich zuckte automatisch zusammen. Auf keinen Fall wollte ich, dass so ein Ding mich noch einmal traf. Doch es landete wie zumeist in der Rinde eines Baumes.
„Du bist dran", sagte Samuel scharf und deutete in dessen Richtung.

Aufbruch ins UnbekannteWhere stories live. Discover now