Zehntes Kapitel

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„Wir brauchen einen Plan", sagte ich, als ich wieder einigermaßen auf dem Damm war. Meine Kehle war trocken und ich brauchte unbedingt etwas Wasser, außerdem hatte ich langsam Hunger. Das einzig Gute war, dass meine Füße mittlerweile etwas weniger schmerzten, dafür aber tat mein Rücken von meiner ungemütlichen Schlafpostion weh. Immerhin nicht ganz aussichtslos.

Samuel war gerade über seinen Rucksack gebeugt und schien dort drin irgendetwas zu suchen. Mich schien er dabei völlig vergessen zu haben.
„Samuel!" Konnte dieser Kerl nicht einfach mal mit mir an einem Strang ziehen? Dass mein Wunsch so schnell erhört werden würde, hätte ich allerdings nicht gedacht.

„Da hast du ausnahmsweise mal recht", entgegnete er und richtete sich seufzend wieder auf. In der Hand hielt er zwei Sandwiches. „Die Letzten", sagte er und gab mir eins davon. Dankbar nahm ich es entgegen und wunderte mich, dass er mir überhaupt eines abgab. Schließlich hätte er es auch heimlich essen können, während ich geschlafen hatte.

„Das wichtigste ist erst einmal Wasser." Herzhaft biss er in sein Brot. „Dann sollten wir versuchen, hier herauszukommen. Und das lieber früher als später. Und heute sollten wir uns ein bisschen eher ein Feuer anzünden. Gestern haben wir viel zu lange damit gewartet. Im Dunklen ist es hier viel zu gefährlich."

Ich schmunzelte. Was allerdings noch mehr meine Aufmerksamkeit erregte, war, dass er glaube, heute Nacht noch immer hier zu sein.
„Es ist noch früh, bis heute Abend sind wir wieder zurück im Lager", sagte ich selbstsicher und wartete auf ein Nicken, auf ein Zwinkern, auf irgendetwas von Samuel. Vergeblich.

„Wir gehen abwärts, um Wasser zu finden. Irgendwo wird es schon einen Bach geben." Samuel schnallte seinen Rucksack auf den Rücken und gab mir meinen zurück. Wieso schleppte ich ihn eigentlich noch mit? Etwas wichtiges hatte sich ohnehin nie darin befunden. Ich hatte allerdings keine Lust auf eine weitere Diskussion mit Samuel, weshalb ich ihn dann doch mitnahm. War ja ohnehin nur für ein paar Stunden und jetzt, wo keine Steine mehr darin lagen, war er auch ganz leicht.

„Das Problem an der Sache ist allerdings", sprach er weiter und setzte sich in Bewegung, „dass wir auf jeden Fall nicht in der Nähe des Wassers bleiben dürfen. Würden wir am Fluss entlanglaufen, würden wir irgendwann auf Menschen treffen, doch ehe wir feindliches Territorium betreten, sollten wir das besser gleich ganz seinlassen."
„Wie kommt es, dass du nicht weißt, wo welche Völker leben, Samuel? Ich meine, du bist Forscher ... Oder?"

Er sah mich verwirrt an, vielleicht auch ein bisschen geschockt. „Natürlich bin ich das", antwortete er. Meine Frage beantwortete er dadurch allerdings nicht, was mich schon etwas skeptisch werden ließ.
„Hör einfach auf mich, Julia. Schlimm genug, dass ich mit einem Teenager hier bin, da kannst du dich ruhig mal benehmen. Versuch es zumindest, ja?" Oh man, wie konnte dieser Typ nur so penetrant nervig sein?
„Ich bin kein Teenager mehr, Samuel."
„Du bist trotzdem anstrengend wie einer. Aber vermutlich kannst du da nicht einmal etwas für. Bist eben ne' Frau."
Ich schnaubte verächtlich. „Was soll das denn bitteschön heißen? Kein Wunder, dass du unter solchen Umständen keine Freundin hast."

Abrupt blieb er stehen und fast wäre ich in ihn hineingelaufen, hätte ich nicht in letzter Sekunde mein Gleichgewicht halten können.
„Wer sagt, dass ich keine Freundin habe?" Er sah mir ernst in die Augen und ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Ja ehm, wer sagte denn, dass er keine hatte? Mist ...
„Hast du denn eine?", fragte ich kleinlaut und hätte mir in meinen Arsch beißen können. Wie konnte ich davon so selbstverständlich ausgehen? Immerhin konnte es gut möglich sein, dass es manche Frauen gab, die ihn vielleicht nicht so furchtbar fanden, wobei das auch nicht allzu viele sein dürften. Trotzdem sah er ja nicht übel aus, wenn man eben von seinem Charakter absehen konnte.

„Nein", murmelte er, „aber das spielt auch keine Rolle." Ha! Hatte ich also doch richtig gelegen. Innerlich führte ich einen Freudentanz auf, dass ich es endlich mal geschafft hatte, dass dieser Kerl verlegen wurde.
„Sag ich doch", antwortete ich selbstgefällig, bekam aber lediglich ein Kopfschütteln, aber das war mir egal.

Eine Weile liefen wir schweigend durch den Dschungel. Ich selbst hatte keinen blassen Schimmer, wo wir uns befanden, jedoch ging Samuel so stur einen mir unsichtbaren Weg entlang, dass ich darauf vertraute, dass er intuitiv wusste, wo es langging. Ich hegte keinen Zweifel daran. Und als ich schon müde wurde von dem vielen Laufen, meine Kehle langsam brannte, blieb Samuel stehen und atmete erleichtert auf.

„Endlich", murmelte er und ich trat neben ihn. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen, als ich den Fluss sah.
„Geschafft", sagte ich in einem Moment voller Glück und verfiel in einen Laufschritt. Samuel folgte mir und fischte nebenbei seine Feldflasche aus dem Rucksack. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, sondern hockte mich in den kühlen Schlamm und formte meine Hände zu einer Schale. Als die süße Flüssigkeit, die hier etwas anders, aber doch in meiner Situation köstlich schmeckte, meine Kehle runterrann, seufzte ich. Noch nie hatte Wasser so gut geschmeckt, auch wenn der schlammige Grund nicht sehr einladend aussah. Ich wusch mir noch schnell mein erhitztes Gesicht vom Dreck und Schweiß ab, ehe Samuel mich ermahnte, dass ich meine Flasche füllen sollte.

„Wir wissen nicht, was hier ist", sagte er. „Beeil dich lieber." Seltsamerweise geriet ich gar nicht in Panik. Irgendwie schien ich mich hier sicher zu fühlen, was vermutlich an dieser lebensrettenden Quelle lag. Erst als meine Flasche gefüllt war und ich auch keinen Durst mehr hatte, blickte ich auf. Und was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.


Aufbruch ins UnbekannteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt