Sechsunddreißigstes Kapitel

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Statt ihm eine Antwort zu geben, drehte ich meinen Kopf von ihm weg. Das war die höchste Strafe. Die Unwissenheit. Nicht, dass ich es absichtlich tat, ich hätte bloß keine Antwort gehabt, außerdem ertrug ich es kaum, ihn anzusehen. Auf der einen Seite war sein Verrat, auf der anderen meine Gefühle für ihn. Ich fühlte mich zwiegespalten wie noch nie. Das, was er getan hatte, konnte man nicht so einfach verzeihen. Er hatte mein Leben aufs Spiel gesetzt.
„Julia?", fragte er und erst überlegte ich, ob ich reagieren sollte, doch dann wandte ich mich ihm zu. Es wäre ja auch albern, wenn ich so tun würde, als hätte ich ihn nicht gehört. Stattdessen betrachtete ich ihn aufmerksam und wartete darauf, bis er das sagte, was er zu sagen hatte. Samuel schien mit sich zu ringen, er biss sich auf die Lippe und wartete einen Moment lang ab.

„Kann ich mich zu dir setzen?"
„Nein", antwortete ich sofort, ohne darüber nachzudenken. Es würde sich nicht richtig anfühlen, ihn neben mir zu haben. „Wir gehen zusammen durch in Dschungel und suchen einen Ausweg. Mehr nicht." Ich sah, dass er nickte und ich lehnte mich wieder entspannt gegen den Baum. Wenn das alles war was er wollte, war das ziemlich einfach gewesen, auch wenn sich das ebenfalls nicht richtig anfühlte. Momentan schien alles falsch zu sein.

Ich war schon fast eingeschlafen, als mir etwas blitzartig durch den Kopf schoss. „Woher kann ich wissen, dass du mir jetzt die Wahrheit sagst und mich nicht immer noch verarschst?" Panik stieg in mir auf. Wieso war ich nicht früher auf diesen Gedanken gekommen? Wenn er nicht ehrlich zu mir war, würden wir hier nie mehr herausfinden. Samuel stöhnte empört auf. Immerhin war er noch wach.
„Ist die Frage ernst gemeint?" Gereiztheit schwang in seiner Stimme mit, zu Unrecht wie ich fand.

„Natürlich", antwortete ich nach Fassung ringend. Was dachte er sich dabei? Es war ja wohl verständlich, dass ich sichergehen musste. Es ging hier schließlich ums Überleben.
„Würde ich dich weiterhin belügen, wüsstest du jetzt nichts von Lukas Auftrag, von John und ... ach, von einfach allem!" Ich schwieg einen Augenblick lang und dachte über seine Worte nach. Ich kam zu dem Entschluss, dass er damit wohl recht hatte. Hätte er weiter lügen wollen, hätte er mir das alles nicht erzählt, sondern sich etwas weniger schmerzhaftes ausgedacht, etwas was ihn nicht dazu bewegen würde, mich um Verzeihung zu bitten.

„Gute Nacht, Samuel", sagte ich also ein wenig beruhigt, wenn man das denn so nennen konnte und hatte die Augen schon wieder geschlossen, als ihm doch noch etwas einfiel.
„Du hast mir meine Frage immer noch nicht beantwortet", sagte er und ich hörte, wie er sich aufrichtete. Ich wusste genau, was er meinte.
„Die Antwort kannst du dir denken", erwiderte ich nüchtern und war selbst ganz erstaunt über meine abweisende Haltung ihm gegenüber. Normalerweise war ich nicht so unnachgiebig, so stur. Schon als Kind hatte ich schnell verziehen, manchmal schneller als es gut für mich war, aber das hier waren eben keine gewöhnlichen Umstände. Auch wenn es mir schon immer leicht gefallen war, das Gute in den Menschen zu sehen, war ich diesmal nicht bereit dafür. Als Freundin über jemanden schlecht zu reden, oder auch mal ein kleines Geheimnis auszuplaudern war eine Sache, aber jemanden in den Dschungel zu locken und ihn glauben zu lassen, man hätte sich verlaufen war schon recht hart.
„Morgen ist ein neuer Tag, vielleicht siehst du es dann schon wieder ganz anders", murmelte Samuel bloß noch, dann hörte man nur das sanfte Prasseln des Feuers und die Geräusche weit entfernter Tiere.

Der nächste Tag war viel zu schnell angebrochen und wir hatten uns früh auf den Weg gemacht. Mir wäre es recht gewesen, länger zu schlafen, ich war kaputt und mir tat alles weh, aber wir waren beide dennoch der Meinung, dass wir aufbrechen sollten. Also hatte Samuel die Glut ausgemacht und nachdem wir unsere letzten Kräcker gegessen hatten, waren wir sofort aufgebrochen. Entgegen Samuels Vermutung, die Welt würde heute ganz anders aussehen, war sie für mich immer noch gleich schwarz. Nichts hatte sich über Nacht geändert. Natürlich nicht. Der selbe Groll, der selbe Schmerz war immer noch spürbar und das tat am allermeisten mir weh. Er hatte sich tief in mich gefressen und bei jedem Blick auf Samuel, bei jedem Gedanken an seine Tat, loderte er in mir auf wie das Feuer gestern Nacht.

Aufbruch ins UnbekannteOnde histórias criam vida. Descubra agora