Neuntes Kapitel

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„Wie meinst du das, Julia?" Samuel starrte mich an und an seinem Tonfall merkte ich, dass er nicht allzu begeistert klang. Natürlich, das würde bedeuten, dass jemand aus seinem Team oder vielleicht auch jemand anderes ihn reingelegt hatte. Und auch mich. Die Erkenntnis traf mich wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Wieso sollte jemand so etwas tun? Oder war ich einfach nur paranoid und versuchte nach einer Erklärung zu suchen, an der weder Samuel noch ich Schuld dran war und die es womöglich gar nicht gab?

„Überlege mal", murmelte ich und ging im Kopf noch einmal das durch, was ich sagen wollte. „Wenn die Schreie wirklich aus der Richtung gekommen waren, in die wir gelaufen sind, müssten es die anderen aus dem Team doch ebenfalls gemerkt haben. Demnach hätten sie uns hinterherlaufen und auf uns stoßen müssen." Ich machte eine dramatische Pause. „Sind sie aber nicht." Samuel lachte leise, klang aber keinesfalls amüsiert.

„Julia", sagte er streng und ich sah selbst im Dunkeln, dass er den Kopf schüttelte. „Daran sieht man mal wieder, dass du gar nicht bereit hierfür bist. Der Dschungel ist riesig und hat keine Trampelpfade, falls dir das bisher noch nicht aufgefallen ist. Es ist sogar recht unwahrscheinlich, dass sie uns gefunden hätten, selbst, wenn sie in unsere Richtung gelaufen wären." Ich glaubte ihm nicht, ließ mir aber nichts anmerken.

„Meinst du denn, sie suchen uns schon?", fragte ich und beobachtete aufmerksam seine Reaktion. Allerdings starrte er bloß auf den Boden, mehr nicht, was die Sache verkomplizierte.
„Mit Sicherheit. Aber das heißt nicht, dass sie Erfolg haben werden. Nicht, wenn man bedenkt, wie groß es hier ist. Wir könnten aber natürlich auch Glück haben und morgen schon wieder im Lager sein. Darauf würde ich mich an deiner Stelle aber nicht verlassen." Ich blieb still. Wieso hatte er nur so wenig Hoffnung? Ich meine, das hier war zwar ein Dschungel und er war riesig, dennoch sollte es möglich sein, jemanden zu finden. Oder etwa nicht?

Ich konnte Samuel atmen hören, allerdings sagte er nichts mehr. Selbst als ich mich auffällig räusperte, ignorierte er mich. Nach einer Weile gab ich es auf. Wieso musste es ausgerechnet er sein, mit dem ich hier war? Als ich schon langsam wegdämmerte, bekam ich mit, wie er seine Wasserflasche herausholte. Wasser. Ich brauchte es auch. Nie hätte ich gedacht, dass diese glasklare Flüssigkeit so wertvoll war. Bisher war sie für mich immer selbstverständlich gewesen. Sehnsüchtig warf ich Blicke auf Samuels Flasche und konnte nicht anders, als meine herauszuholen.

Nur einen Schluck, dachte ich, doch als das Wasser erst einmal meine Lippen berührte, war sie doch schneller leer als ich gedacht hätte. Schockiert setzte ich sie ab und war den Tränen nahe. Was nun? Wie könnte ich morgen ohne etwas zum Trinken aushalten? Panisch überlegte ich, Samuel anzusprechen und noch einen blöden Spruch zu riskieren, sah aber ein, dass ich es in Kauf nehmen musste. Ruckartig stand ich also auf und wankte müde zu ihm.

„Weißt du, wie wir an Wasser herankommen?", fragte ich weinerlich und ließ mich neben ihm nieder.
„Wir kümmern uns morgen drum." Auch er klang schläfrig, was meine Angst allerdings nicht milderte. Wir lehnten beide gegen den selben Baumstamm und doch hatte ich das Gefühl, dass ich nicht weiter von ihm entfernt sein könnte. Ich wollte reden! Wollte einen Plan erstellen, trotz, dass ich vor Müdigkeit keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.
„Morgen", murmelte er nur noch, als würde er ahnen, was ich wollte. Oder hatte ich es laut ausgesprochen?

„Lukas, was hast du?" Besorgt setzte ich mich neben ihn, beobachtete seine versteinerte Mine, die nicht auf mich reagierte. Ich lachte gespielt, als ich ihn in die Seite stupste, so wie wir es immer getan hatten, wenn einer von uns schlecht drauf war. Normalerweise lächelte er mich dann an, nahm mich in den Arm, küsste mich, oder raufte mir die Haare. Heute allerdings würdigte er mich nicht einmal mehr eines Blickes. Mein Herz klopfte beunruhigt gegen meine Brust, ich wollte, dass er endlich etwas sagte oder mich auch nur ansah.

„Lukas?", fragte ich sanft und legte ihm eine Hand auf den nackten Unterarm.
„Was, wenn du einen Neuen dort findest, Julia? Was, wenn jemand aus dem Team dir gefällt?" Abrupt zog ich meine Hand wieder zurück. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Das konnte er doch nicht ernst meinen?
„Blödsinn", verteidigte ich mich verärgert. „Ich liebe dich. Und da werden drei Monate im Dschungel nicht das geringste dran ändern." Ich schüttelte über seine Worte den Kopf. Wieso waren alle gegen mich?
„Und was ist mit mir? Ich werde drei Monate hier sein. Meine Jungs, Partys, Alkohol und das alles ohne dich. Was hält mich davon ab, keine Scheiße zu bauen?"

„Hey, wach auf!" Jemand rüttelte unsanft an meinem Oberkörper, sein Griff war schmerzend. „WACH. ENDLICH. AUF!" Erschrocken schlug ich meine Augen auf, mein Herz pochte schwindelerregend und Schweiß trat mir auf die Stirn. Wo war ich? Verwirrt sah ich mich um. Bäume. Ungewöhnliche Pflanzen. Dieser ganz spezielle, süße, exotische Geruch. Samuel. Es war bloß ein Traum gewesen. Nein, eine Erinnerung. Ich war hier im Dschungel. Nichts hatte sich geändert. Hastig wischte ich mir die Tränen vom Gesicht. Hatte ich etwa im Schlaf geweint? Lukas. Oh Gott, was hatte ich nur gemacht? Vermutlich vergnügte er sich jetzt mit irgendeiner anderen. Er hatte es mir angedroht. Aber wie könnte er so etwas tun?

„Wer ist Lukas?" Samuels Blick war aufmerksamer als er es sonst war, die Hektik von eben war allerdings verschwunden. Wieso also hatte er mich angeschrien? Drohte Gefahr? Ich konnte jedenfalls nichts entdecken. Erst jetzt bemerkte ich, dass es wieder hell war. Ich hatte tatsächlich einige Stunden lang schlafen können, was ich nicht gedacht hätte.
„Woher?"

„Du hast im Schlaf gesprochen, Mädchen", beantwortete er meine mehr oder weniger unvollendete Frage.
„Hast du mich nur deshalb geweckt?", fragte ich ungläubig und Samuel nickte.
„Also, wer ist dieser Kerl?" Er legte den Kopf schief und sah mich neugierig an.

Ich holte tief Luft und ignorierte die Tatsache, dass er mich allein deshalb aufgeweckt hatte. „Mein Freund", flüsterte ich dann also, traurig darüber, dass ich nicht wusste, ob ich darüber noch die ganze Wahrheit sagte, oder ob sich diesbezüglich bei Lukas schon etwas geändert hatte.
„Und wo ist er jetzt?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Vermutlich Party machen und mit anderen Weibern rummachen", erwiderte ich trocken und versuchte mir den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Doch Samuel lachte bloß. Er lachte und schüttelte dabei amüsiert den Kopf.
„Was für ein Idiot!"

Aufbruch ins UnbekannteWhere stories live. Discover now