Zweites Kapitel

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Hier gab es ganz genau drei Regeln.
Erstens: Fass bloß nichts an.
Zweitens: Keine eigenmächtigen Touren durch den Dschungel.
Drittens (und das war offenbar die Wichtigste): Gehe Gregory nicht auf die Nerven.

„Gehe am besten niemanden hier auf die Nerven", ergänzte Samuel, der, wie sich herausstellte, derjenige war, der ohnehin nicht besonders angetan von mir war. Ob es nun an meiner Stellung als Praktikantin lag oder ich ihm grundsätzlich unsympathisch war, wusste ich nicht. Aber offenbar hatten sie hier sowieso eine ausgeprägte Abneigung gegen Praktikanten. Er rollte mit den Augen, weil er nun gezwungenermaßen so etwas wie mein persönlicher Babysitter war, was mich nebenbei bemerkt ziemlich ärgerte, dass er es so bezeichnete, da er mich ja bloß in meine Aufgaben einweisen sollte. Und dabei konnte er gerade einmal Ende zwanzig sein und ich war aus dem Kindesalter nun auch schon längst herausgewachsen.

„Hör zu", sagte ich und stemmte meine Hände in die Hüfte. „Ich habe keine Lust so behandelt zu werden." Ernsthaft, es reichte! „Ich habe diese Praktikumsstelle bekommen und habe mich wirklich darauf gefreut. Hier will ich etwas lernen und mein eigenes Abenteuer erleben." Ups, hatte ich das gerade etwa laut gesagt? Sofort biss ich mir auf die Zunge, bis sich ein metallischer Geschmack in meinem Mund ausbreitete. Nach der Sache mit dem Lernen wollte ich doch eigentlich meine Klappe halten ...

Die Quittung dafür bekam ich sofort. Samuel lachte lauthals auf und schnappte nach einigen Sekunden hörbar nach Luft. „Du willst Abenteuer?" Er gluckste immer noch vor sich hin, amüsiert und abschätzig. „Vielleicht hättest du dafür lieber auf den Spielplatz gehen sollen."
„Nun lass sie doch", mischte Allison sich ein, trat hinter mich und legte mir eine Hand auf die Schulter. Wenigstens eine Person hielt mich nicht für bekloppt. „Wollten wir das nicht irgendwann alle mal?" Sie zwinkerte mir unauffällig zu und ich fragte mich, was damals wohl ihre Beweggründe gewesen waren, so einen Job anzunehmen.

„Der Dschungel ist gefährlich. Er ist kein Ort für ein gelangweiltes Kind!", protestierte er. „Abenteuer." Er spuckte das Wort förmlich aus, als hätte ich ihm damit Gift verabreicht. „Wenn wirklich das dein Plan sein sollte, würde ich mir eine neue Beschäftigung suchen." Autsch.
Ich wollte es weiß Gott nicht zugeben, aber er hatte mich mit seinen Worten verletzt. Was war so schlimm an meinen Träumen? Sollte nicht jeder Wünsche haben, an die er glauben konnte und die in Erfüllung gingen? Zumindest manchmal?
„Ich bin achtzehn und längst kein Kind mehr", erwiderte ich bissig und versuchte möglichst böse zu gucken. Das es nichts brachte, war mir aber ohnehin schon klar. Das Schlimme war, dass Samuels Reaktion mich stark an die meiner Eltern erinnerte ...

„Du kannst nicht in den Dschungel gehen, Julia." Mom hatte schon rote Flecken im Gesicht, weil sie sich so über mein Vorhaben aufregte. „So etwas sollte man nicht unterschätzen. Was ist, wenn etwas passiert? Was sind das für verantwortungslose Menschen, die einem Kind so einen Praktikumsplatz anbieten?"

Ich stöhnte genervt auf. „Mom", sagte ich langgezogen und verdrehte beinahe theatralisch die Augen. „In einem Forscherteam bin ich in Sicherheit. Die verfüttern mich nicht an die Schlangen." Ich hörte, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde, die Tür schlug schwungvoll auf und schwere Schritte gingen den Flur entlang.

„Damals hatte ich auch gedacht, ich wäre mit einem Piloten in Sicherheit. Du weißt, was passiert ist." Immer diese alte Leier ... Wann hörte es endlich auf? Wann konnte mein eigenes Leben beginnen, ohne, dass Mom ihre Geschichten herauskramte?

„Jetzt bin ich dran. Ich will Abenteuer erleben. So wie ihr", jammerte ich und kam mir plötzlich wirklich vor wie ein kleines Kind. Vielleicht färbten ihre Worten ja ab und ich verwandelte mich wieder zurück. So konnte das doch nie etwas werden.
„Denkst du, wir hatten Spaß?" Mom schnappte hörbar nach Luft. Ihre Stimme fing an zu zittern, ihre Unterlippe bebte, so wie immer, wenn sie an diese Zeit zurückdachte.
„Ist schon gut, Liv." Dad hatte sich unbemerkt ins Zimmer geschlichen und zog Mom nun in seine Arme.

Aufbruch ins UnbekannteTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon