Neunundzwanzigstes Kapitel

1.8K 173 9
                                    

„Lass es einfach, Julia, kapiert?", schnauzte Samuel und traf mich mit seinen Worten. Ich war zweiermaßen verwirrt. Ich dachte noch immer darüber nach, ob ich es wirklich ernst meinte, oder ob die Umstände mir bloß Gefühle vorgaukelten und mich glauben ließen, zwischen uns sei irgendetwas passiert. Und dann irritierte mich sein plötzlich merkwürdiges Verhalten. Gut, vielleicht hätte es mich nicht verwirren sollen, schließlich war er oft in einer Sekunde nett zu mir und in der anderen wieder total das Arschloch, aber das hier war irgendwie anders als sonst. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er es diesmal mit Absicht machte.

Fassungslos sah ich ihn direkt in die Augen, die von Schmerz erfüllt zu sein schienen. „Was ist los, Samuel?", murmelte ich.
„Gar. Nichts", antwortete er scharf und atmete tief ein.
„Das glaube ich nicht", erwiderte ich kleinlaut, wohl wissend, dass ich damit den Bogen überspannen könnte. Samuel schüttelte wütend den Kopf, dann stand er unerwartet auf.
„Warte", rief ich beinahe schon, streckte meine Hand nach seiner aus und wollte ihn zurückziehen, was er jedoch nicht zuließ. Stattdessen entriss er sie mir. Sofort sprang ich auf und stellte mich vor ihm hin.
„Verdammt, was ist los?", fuhr ich ihn an, nach einer Antwort verlangend.
„Ich bin schlecht für dich, Julia. Du darfst nicht sagen, dass es dich hier nicht hätte schlimmer treffen können."

Ich verstand gar nichts mehr, war den Tränen nahe. Meine kleine Welt geriet gerade mächtig aus dem Gleichgewicht.
„Nein, Samuel, ich ...", stotterte ich, fand aber nicht die richtigen Worte, um das auszudrücken, was ich dachte. Und was dachte ich überhaupt? Ich war mir selbst nicht mehr sicher. Hoffnungslos spielte ich meine letzte Karte aus. Meine Hände glitten an seine Wangen, ich zog ihn zu mir und stellte mich auf Zehenspitzen, um an sein Gesicht heranzukommen. Meinen schmerzenden Arm versuchte ich dabei möglichst zu ignorieren, auch wenn ich ein leises Aufstöhnen nicht unterdrücken konnte. Ohne auch nur darüber nachzudenken, ob er es wollte, küsste ich ihn. Mein Herz pochte laut gegen meine Brust, sodass ich befürchten musste, dass er es hören könnte. Abwartend drückte ich meine Lippen auf seine, wollte unbedingt, dass er meinen Kuss erwiderte, doch er drehte schnell den Kopf weg. Enttäuscht schnappte ich nach Luft und weitete meine Augen vor Schreck. Damit hatte ich nicht gerechnet. Sein Blick war erbost als er mich ansah, sekundenlang, doch nach ein paar quälenden Augenblicken wurde sein Ausdruck zwar nicht milder, doch er umfasste meinen Kopf und zog mich unsanft an sich heran. Erleichterung durchströmte meinen Körper als er mich küsste und ich ließ mich innerlich fallen. Die Gedanken strömten aus mir heraus, als wären sie nie existent gewesen. Noch nie hatte ich mich so grenzenlos, so frei und berauscht gefühlt und ich hätte Stunden so weitermachen können, hätte Samuel sich nicht sanft von mir gelöst.

„Ich denke, dass willst du nicht", flüsterte er an meine Lippen, seine Stirn lehnte gegen meine und ich konnte seinen Atem spüren.
„Oh doch", murmelte ich entschlossen und reckte ihn mein Kinn und somit auch meine Lippen entgegen. Als ich das tat, war ich mir so sicher, dass er darauf eingehen würde. Zweifel hegte ich keine. Samuel hingegen reagierte ganz anders als erwartet und wandte sich von mir ab. Auch er wirkte entschlossen. Nun trennten uns gute zehn Zentimeter, die mir wie eine ganze Welt vorkamen und er richtete seinen Blick in eine andere Richtung, starrte auf irgendetwas, was links von ihm war. Oder aber auch ins Leere. „Ich verstehe dich nicht." Das war die Untertreibung des Jahres.

„Da war etwas", flüsterte er stattdessen konzentriert. Ich horchte und überlegte währenddessen, ob er die Wahrheit sagte, oder er nur eine Ausrede brauchte, um zu erklären, warum er sich von mir gelöst hatte. Doch dann ging Samuel ein paar Schritte und nur das Feuer, welches mich ihn sehen ließ, verhinderte, dass ich ihn wieder einmal wie ein Hund hinterherdackelte. Und als er dann einen Pfeil aus einem der umstehenden Bäume zog, wusste ich, dass er nicht gelogen hatte. Fassungslos drehte er sich zu mir um und schon beim bloßen Anblick des Pfeils wurde mir speiübel. Er löste furchtbare Bilder in meinem Kopf aus und machte den Schmerz, der in meinem Arm pochte, noch viel präsenter.

„Es ist ein Zettel dabei", sagte Samuel, riss ihn ab und schmiss den Pfeil achtlos ins Feuer, welches kurz aufloderte. Über das Licht gelehnt faltete er ihn auseinander und murmelte etwas vor sich hin, was ich nicht verstehen konnte.
„Was?!", sagte er wütend. „Das ist nicht sein ernst?"
„Was ist los?", fragte ich besorgt, ging auf ihn zu und legte eine Hand auf seinen Rücken. Entweder war er zu geschockt von dem, was auf dem Zettel stand, dass er meine Hand gar nicht zu bemerken schien, oder aber er ließ es einfach zu. „Er sagt, wir sollen Richtung Norden gehen. Da läge ein Rucksack mit Medizin für dich", sagte er und im Schein des Feuers war sein Gesicht aschfahl. Doch ich freute mich. „Das ist aber gut", protestierte ich und verstand nicht, was er hatte. Zwar war dieser Kerl auch Schuld an meiner Verletzung, aber wenn ich jetzt Schmerztabletten oder ähnliches bekam, würde es mir sicher wieder besser gehen. Vielleicht war ja auch steriles Verbandsmaterial dabei. Zumal mir immer wieder schwindelig wurde und ich nicht zuordnen konnte, ob es an meiner Wunde oder an dem Wassermangel, den ich natürlich immer noch hatte, lag. Wenn es uns vorher noch nicht richtig klar war, jetzt wussten wir es. Dieser Typ, wer immer er auch war, hatte Kontakt zur Außenwelt. Denn ansonsten hätte er die Medizin nicht besorgen können. Wie weit also waren wir von der Zivilisation entfernt?

„Das war nicht geplant", hauchte Samuel, aber es wirkte so, als würde er es nicht mir erzählen, sondern eher sich selbst.
„Natürlich war es das nicht", antwortete ich und er warf mir einen schockierten Blick zu. Was hatte er? Als würde er jetzt erst wach werden, schüttelte er den Kopf.
„Nein ... ich meine, ja, du hast recht", murmelte er. „Das ist etwas Gutes." Ich seufzte. Wieso reagierte Samuel so? Aber egal. Seitdem ich ihm indirekt gestanden hatte, dass ich ihn mochte, verhielt er sich komisch. Möglich, dass er mit Ablehnung einfach besser klarkam, dachte ich traurig. Ich warf einen Blick auf Samuel, der den Zettel in seinem Rucksack verstaute.
„Warte hier. Ich werde deine Medizin holen."


Aufbruch ins UnbekannteWhere stories live. Discover now