Kapitel 48 "Wandelleiche"

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Sie waren nicht mehr dort. Während ich weggewesen war, mussten sie Vegas verlassen haben. Es gab keinerlei Hinweise auf ihren Verbleib. Nichts, was mir sagte, dass es ihnen gut ging. Es traf mich, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Erst hatte ich Juvia verloren und nun meine eigene Familie. Ich konnte nicht mehr, meine Beine gaben unter mir nach und ich landete auf dem schmutzigen Teppich. „Das darf einfach nicht wahr sein. Als hätte ein Mal nicht gereicht…“

Ich hasste mich selbst dafür, dass ich ausgerechnet jetzt, wo ich einen kühlen Kopf bewahren musste, einen Nervenzusammenbruch hatte. „Da hast sie absichtlich zurückgelassen“, meinte Victoria leise, „du wolltest sie beschützen, vielleicht ist es besser so.“ Ich erwiderte nichts darauf, zu sehr widerstrebte mir die Vorstellung, sie nie wieder zu sehen. Warum hatte ich nicht darauf vertrauen können, dass ihnen nichts geschehen würde? Andererseits hätte es sie das Leben kosten können, wenn ich sie nicht verlassen hätte. Vielleicht hatte Victoria Recht und es war besser so.

Hadiya war wie so oft in verheißungsvolles Schweigen verfallen, es wirkte, als habe sie sich in ihrem eigenen Kopf von allem anderen isoliert, um nachzudenken. Sie anzusehen erinnerte mich schmerzlich an Juvia, aber ihre Schwester war nicht hier und so musste ich zugeben, dass Hadiya etwas Faszinierendes an sich hatte. Sie schien die Welt immer so zu betrachten, als hätte sie sie noch nie gesehen. So wie ein Blinder, der plötzlich sehen kann, den ersten Sonnenaufgang ansieht. Das allein machte sie jedoch nicht so interessant.

Es war die Tatsache, dass absolut jeder sie als etwas anderes wahrnahm. Für Jackson war sie die unschuldige kleine Schwester, die beschützt werden musste, für Juvia war sie eine hochintelligente, selbstbewusste, junge Frau und für mich war sie - ja was war sie eigentlich? Sie war ein Kind, dass sich mehr wie eine Erwachsene verhielt und sie war eine Rebellin, die nicht kämpfte. Ich verstand, warum sie Juvia so in ihren Bann hatte ziehen können. „Ich weiß, dass du hier auf sie warten willst, aber dafür haben wir keine Zeit.“

In einer unbeholfenen Geste, die mich wohl trösten sollte, klopfte Victoria mir auf die Schulter. Ich atmete tief durch und nickte, dann richtete ich mich auf und klopfte mir den Staub von der Hose. Je schneller wir die Welt gerettet hatten, desto schneller konnte ich mich auf die Suche nach meiner Familie machen. „Wir brauchen trotzdem Helfer“, fing Victoria an, „vermutlich finden wir genügend lebensmüde freiwillige in den Zeltstädten. Ihre Vorräte werden nicht ewig reichen, vermutlich sind einige sogar schon am Rande der Erschöpfung. Den Leuten dort gibt der Kampf eine Perspektive, ich denke viele werden sich uns anschließen.“

Ich zwang ein Lächeln auf meine Lippen und nickte: „Dann lasst uns keine Zeit verlieren.“ Vicky hatte den Raum bereits verlassen, als Hadiya mich am Ärmel festhielt: „Du siehst aus wie eine Hyäne, wenn du so lächelst. Und das ist kein Kompliment. Konzentrier dich auf die Mission, wenn wir alle wegen deinen Gefühlen draufgehen, ist niemandem geholfen.“ Einen Herzschlag später war sie verschwunden und ich fragte mich, ob ich mir die ganze Sache nur eingebildet hatte. Als ich draußen auf die anderen stieß, musterte ich Hadyia verstohlen, aber nichts wies darauf hin, dass sie mich soeben zurechtgewiesen hatte. Sie lächelte sogar, auch wenn ich glaubte, darin den Anflug von Mitleid und Spott zu erkennen.

„Hier in der Umgebung gibt es nur wenige Lager, niemand ist dumm genug, um mit den wenigen Vorräten in der Wüste zu campen. Wahrscheinlich werden wir an der Küste eher fündig, aber bis wir dort sind, verlieren wir vermutlich wieder einen ganzen Tag. Was meint ihr?“ Erwartungsvoll blickte Victoria zwischen uns hin und her, aber mir war es egal und Hadiya sagte nichts dazu. „Also gut, dann machen wir wohl, was ich will. Aber beschwert euch nachher nicht.“

.-.-.-.

„Ich hab gesagt, ihr sollt euch nicht beschweren!“ „Es hat sich niemand beschwert“, gab ich erschöpft zurück. „Vielleicht nicht mit Worten, aber eure Gesichtsausdrücke sprechen Bände. Hättet ihr vorhin euren Mund aufgemacht, wären wir jetzt nicht hier. Das habt ihr euch selbst eingebrockt.“ Schon seit Stunden durchstreiften wir die Rocky Mountains auf der Suche nach Zeltstädten, die es hier entweder nicht gab, oder die viel zu gut versteckt waren. Außerdem hatten wir uns mit ziemlicher Sicherheit verirrt, Vicky wollte es bloß nicht zugeben und ich wusste nicht, ob ich es überhaupt hören wollte.

Sogar auf Hadiyas Gesicht war die Erschöpfung und Niedergeschlagenheit zu erkennen, die sich mit dem Untergehen der Sonne auf unsere Gesichter geschoben hatte. Mit der Wärme war auch unsere Motivation hinter dem Horizont verschwunden und nun kletterten wir lustlos über Felsbrocken und –spalten. Unsere Stimmen waren gesenkt, als hätten wir Angst, die Dunkelheit würde uns belauschen. Ab und an bildete ich mir ein, Lichter zu sehen, aber jedes Mal, wenn wir näher kamen, stellte sich heraus, dass es lediglich ein heller Stein war, der vom Mond beleuchtet wurde.

„Bist du dir sicher, dass jemand in den letzten 100 Jahren diesen Weg beschritten hat“, fragte ich vorsichtig, um die angespannte Stimmung nicht noch mehr zu vermiesen. „Nicht wirklich, aber die ganzen Flüchtlinge müssen doch irgendwo untergekommen sein. Ich für meinen Teil würde auch so tief wie möglich ins Gebirge fliehen.“ „Zum Glück ist die Bezahlung so gut…“, murmelte ich leise. Gerade wollte sie etwas Schnippisches darauf erwidern, als sich an einer Weggabelung vor uns eine Gestalt aus den Schatten schälte. Alle Viere von sich gestreckt lag sie auf dem Boden und rührte sich nicht.

Ich versteifte mich beim Anblick des toten Körpers und lauschte angespannt in die Stille der unbelebten Nacht. Die Geräusche unserer Schritte vermischten sich mit denen unseres Atems, aber am lautesten schlug mein eigenes Herz, als würde es direkt neben meinem Ohr pulsieren. Behutsam näherte sich Victoria der Leiche, während sie die Umgebung konzentriert im Auge behielt. Sogar Hadiya war aus ihrer nachdenklichen Starre erwacht und ließ ihren Blick über die holprige, von Abhängen geprägte Landschaft schweifen. Die Dunkelheit hielt mit uns zusammen die Luft an, bis Victoria zu uns zurückkehrte. „Er ist noch nicht lange tot.“

Trotz der schwülen Wärme überzog eine Gänsehaut meine Arme und unwillkürlich lief mir ein Schauer über den Rücken, kroch in meine Gedanken und ließ mich frösteln. „Bist du dir sicher?“ „Sein Gestank löst keinen Würgereiz bei mir aus, also bin ich mir sicher, dass er noch nicht sehr lange hier liegt. Bei der Hitze würde er schon nach wenigen Stunden anfangen, nach 3 Jahren ohne Dusche zu riechen. Außerdem haben sich noch keine Aasgeier an ihm bedient, was zwar sein derangiertes Gesicht erklären würde, aber der Rest seines Körpers ist ja unversehrt und…“ „Ganz ruhig, Victoria.“

Sie sah mich an und ich erwiderte ihren Blick in der Erwartung, dass sie sofort ohne Punkt und Komma weiterreden würde, aber sie atmete nur tief durch und fuhr dann langsamer fort: „Jemand hat ihm das Gehirn weggepustet. Und wo er schon dabei war auch noch das Gesicht in eine –sagen wir - formbare Fläche verwandelt. Wahrscheinlich eine uralte Waffe, aber wer auch immer den Abzug betätigt hat, wusste, wie man damit trifft.“ Das hob meine Laune erstaunlicherweise nicht. „Haben wir auch Waffen dabei? Ich meine klar, ich bin das Kind und so, aber jetzt wäre ein geeigneter Moment mit sowas herauszurücken“, stellte Hadiya fest und sah uns erwartungsvoll an.

„Um ehrlich zu sein, haben wir die im Auto gelassen, weil wir dachten, dass wir die Leute damit nur verschrecken. Man kann niemandem verkaufen, dass man in Frieden kommt, wenn man unter seinen Klamotten einen Revolver und zahlreiche Messer trägt. Nicht, dass ich etwas gegen Waffen hätte, aber ein Bügeleisen tut es manchmal eben auch.“ „Willst du deine Gegner etwa entfalten?“ „Nein, das nun auch gerade nicht, aber wir könnten ihn mit Steinen bewerfen. Das ist sicherlich besser als nichts.“ Victoria war hochrot angelaufen und selbst in der Finsternis schienen ihre Wangen zu leuchten wie ein Warnschild.

„Lasst uns das jetzt vergessen, wir können es ohnehin nicht mehr ändern. Wir sollten einfach so schnell es geht zurück zum Wagen und machen, dass wir hier wegkommen.“ Also kehrten wir um, und alle paar Meter warf mindestens einer von uns einen Blick zurück, um nach möglichen Verfolgern Ausschau zu halten. Trotz der Anspannung, die in der Luft lag, musste ich mir die Augen reiben und gähnen. In letzter Zeit hatte ich einfach viel zu wenig Schlaf bekommen, ganz zu schweigen davon, dass ständig irgendwelche neuerlichen Schocks meine vollste Konzentration abverlangten. Nach einer sehr scharfen Biegung riss uns Hadiya abrupt zu sich und wir pressten uns gegen den Fels.

„Irgendjemand verfolgt uns“, flüsterte sie atemlos. Was ich bisher als Paranoia abtun hatte können, war jetzt bestätigt. Schwerfällig schluckte ich den Klos in meinem Hals herunter. „Was machen wir jetzt?“, wisperte ich. Ich hoffte inständig darauf, dass Victoria einen Plan hatte. Sie war die Söldnerin, diejenige, die in solchen Sachen am meisten Erfahrung hatte und uns sicher heil hier herausbringen konnte. „Ich weiß es nicht.“

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Where stories live. Discover now