Kapitel 19 "Vergebungsbeginn"

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„Finger weg, ich kann selbst aufstehen“, murmelte sie, als ich nach ihrem Arm griff. Zögernd ließ ich meine Hand sinken. Sie hätte sie ohnehin nicht gebraucht, was sie bewies, indem sie ohne ein Innehalten aufstand. „Was machst du überhaupt noch hier? Du wolltest doch den anderen die Heldenrolle überlassen.“ Der Vorwurf traf mich tiefer, als er es sollte. Ich hatte nicht mal damit gerechnet, dass sie noch sauer war. Aber natürlich war sie es.

Nur weil ich für sie zurückgekommen war, änderte das nichts an der Tatsache, dass ich sie allein gelassen hatte. Trotzdem könnte sie ja wohl ein bisschen dankbarer sein. „Werde ich auch. Tut mir leid, dass ich dir helfen wollte. Am besten hätte ich es gelassen.“ Juvia zog scharf die Luft ein. „Ach ja? Warum hast du es dann nicht einfach getan?“ Einen Moment überlegte ich, ob ich diese Diskussion gewinnen konnte. Aber dann merkte ich, wie sinnlos es war. Also senkte ich den Kopf und überließ ihr den Sieg. „Weil ich es nicht wollte.“ „Soso. Dein Gewissen hat sich also plötzlich dazu verpflichtet gefühlt, jemandem zu helfen.“

Verdutzt blickte ich sie an. Ich konnte ihr nicht mal antworten, so überrascht war ich. „Ja, Ross, ich weiß, dass es einen Unterschied macht“, fuhr sie fort, „aber prinzipiell ist es trotzdem genau dasselbe. Du hattest dich dazu entschieden, niemandem zu helfen und jetzt bist du wieder da. Das ergibt keinen Sinn! Du ergibst keinen Sinn!“ „Wie soll ein Mensch auch Sinn ergeben?“, fragte ich verständnislos. „Keine Ahnung, aber du tust es jedenfalls nicht“, antwortete sie patzig. Dann tastete sie an sich selbst hinab. „Bin ich noch ganz?“ Ich grinste leicht und seufzte erleichtert: „Ja, bist du.“ „Na Gott sei Dank. Sowas könnte ich jetzt nicht auch noch gebrauchen.“

„Hast du was gefühlt? Als du im Spiegel warst, meine ich.“ „Kommt drauf an. Was soll ich denn gefühlt haben?“ Ich zuckte mit den Schultern: „Vielleicht silbern oder so?“ Verständnislos sah sie mich an: „Silbern? Wie kommst du drauf?“ Sollte ich ihr von meinem Gespräch mit Fayola berichten? Wahrscheinlich wäre es das Beste, schließlich wollte Juvia ja etwas gegen die Situation unternehmen. Aber wenn ich ihr nicht sagte, was ich jetzt wusste, würde sie sich vielleicht nicht in Gefahr begeben.

„Einfach so“, murmelte ich. „Nö, besonders Silbern hab ich mich nicht gefühlt. Aber wie hast du es geschafft, mich da raus zu bekommen?“ Misstrauisch blickte sie mich an. Ich versuchte mir möglichst schnell eine glaubhafte Lüge auszudenken, aber mir wollte einfach nichts Logisches einfallen. Würde sie es nicht ohnehin merken, wenn ich sie anlog? Ich musste es versuchen.

„Als ich hier unten ankam, warst du nicht mehr da. Nur das Blut vor dem Spiegel hab ich vorgefunden. Ich bin gar nicht erst auf die Idee gekommen, dass du da drin sein könntest. Deshalb hab ich draußen weitergesucht, aber da warst du ja auch nicht. Deshalb bin ich wieder reingekommen und in dem Moment bist du einfach aus dem Spiegel gefallen. Vielleicht wollten dich die Wesen da drin einfach nicht.“ Sie runzelte die Stirn: „Bist du dir sicher? Hast du irgendwas im Spiegel gesehen?“

Ich setzte ein Gesicht auf, das sie in den Glauben versetzten sollte, dass ich ernsthaft darüber nachdachte. Nach einigen Sekunden schüttelte ich den Kopf. „Nein, ich hab wirklich nur dich gesehen. Du hattest zwar keine festen Konturen, aber das warst mit Sicherheit du.“ „Wie, ich hatte keine festen Konturen? Was soll ich mir darunter jetzt vorstellen?“ „Naja, du warst eben nur ein Schemen hinter der Spiegelfläche. Du hattest keine Augen und so weiter. Eben völlig ohne Konturen.“

Juvia wirkte von der Vorstellung alles andere als begeistert. „Heißt das, man verliert automatisch seine Menschlichkeit, wenn man dort ist?“ Abwehrend hob ich die Hände: „Woher soll ich das wissen? Du warst schließlich dort.“ „Meinst du, ich würde nochmal reinkommen?“, fragte sie ernsthaft. Ich musste sie angesehen haben, als hätte sie jetzt völlig den Verstand verloren, denn sie zuckte ungeduldig mit den Schultern. „Du willst da doch nicht nochmal rein, oder?“, rief ich entsetzt. „Wenn wir nur so irgendwie weiterkommen, muss ich wohl.“ Ich fuhr mir gestresst durch die Haare. Sie anzulügen war anstrengender, als ich gedacht hatte.

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Donde viven las historias. Descúbrelo ahora