Kapitel 17 "Trennungsschrei"

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Sie rührte sich nicht. Wie die ganze Zeit über bewegte sie sich nicht von der Stelle. „Nein“, sagte ich und schüttelte ungläubig den Kopf. „Das kann nicht sein.“ Aber es war natürlich nicht nur bloße Einbildung, auch wenn ich es mir wünschte. Es war tatsächlich das Mädchen aus dem Spiegel, das mich über zwei Jahre hinweg begleitet hatte. Die Unwirklichkeit ihrer Erscheinung war auf eine beängstigende Weise vertraut. „Ist sie es wirklich?“, fragte Juvia ehrfürchtig.

Ich musste mir selbst ins Gedächtnis rufen, dass sie sie ja erst ein einziges Mal gesehen hatte. Es kam mir vor, als wäre das Wochen her. Dabei waren es nur wenige Tage, seitdem alles den Bach runter ging. So schnell konnten sich Zeiten ändern. In diesem Moment fühlte ich mich wie ein Blatt im Wind. Ich konnte nichts dagegen tun, einfach davon getrieben zu werden. Es war unfair, sich so hilflos zu fühlen, während ich langsam anfing zu begreifen. Irgendjemand hatte das alles geplant. „Sie ist es“, murmelte ich leise. „Wer macht so was? Was ist das für ein lächerliches Experiment? Und welches Ziel soll das Ganze überhaupt haben?“ Ich hatte keine Vorstellungen davon, warum irgendjemand sowas machen sollte. Es war jenseits meiner Vorstellungskraft, als wäre ich gerade über meinen eigenen Tellerrand gefallen.

Ich hatte mich zu weit aus dem Fenster gelehnt und jetzt fiel ich in ein bodenloses Loch. Juvias Griff um meine Schulter beförderte mich in die Realität zurück, in der ich natürlich auf festem Boden stand. „Du sahst aus, als würdest du gleich in Ohnmacht fallen.“ Ich wollte ihr sagen, dass ich mich auch so fühlte, aber dann ließ ich es. Wenn alles hier angefangen hatte, musste es auch hier wieder aufhören. Juvia konnte die Heldin sein, die sie sein wollte und das alles nur aufgrund eines Zufalls.

„Ist das Alles, was es auf dem Computer zu finden gibt?“ Ich nickte stumpf und schaute wieder auf den Bildschirm. Er war leer, bis auf den Balken, der anzeigte, dass eine Sequenz ablief. Insgesamt schätzte ich die Anzahl der Namen auf ungefähr 100 Stück. Das würde also bedeuten, dass es 100 Leute auf der Erde gab, die schon vorher mit einem der Spiegelbilder Bekanntschaft gemacht hatten. Und jetzt waren sie wütend und drehten komplett am Rad. Wer auch immer das hier angezettelt hatte, damit hatte er vermutlich nicht gerechnet. Jetzt war es außer Kontrolle geraten war, sah sich hier offenbar niemand mehr verpflichtet, es ungeschehen zu machen.

„Ich weiß, dass du nicht den Held spielen wolltest und so weiter, aber jetzt wo wir schon mal hier sind…“ Fast hätte ich gelacht. Sie sagte es so, als wäre es keine große Aufgabe, kaum der Erwähnung wert. Mit Sicherheit wusste sie genauso gut wie ich, dass das nicht stimmte. Aber sie wollte nicht aufgeben. Sogar ihr Blick war so voller Hoffnung, dass es schon fast wehtat, ihr sagen zu müssen, dass ich ihr nicht helfen würde. „Juvia, ich bin aus Neugier hergekommen, und jetzt wo ich weiß, was hier passiert ist, will ich einfach nur noch weg. Die Welt zu retten, sollten wir den Profis überlassen.“

Obwohl sie den Mund geschlossen hielt, sah ich, wie sie sich auf die Zunge biss. Ich wusste, dass meine Entscheidung vernünftig war und uns beiden das Leben retten könnte, aber trotzdem bedauerte ich es. Natürlich wäre es irgendwie das Richtige, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um andere Menschen zu retten, aber die Chance, dabei sinnlos umzukommen, war einfach zu hoch. „Dann trennen sich unsere Wege jetzt wohl.“ Kälte und Resignation schwangen in ihrer Stimme mit. Es versetzte mir einen Stich, dass sie es so sagte. „Du willst wirklich hier bleiben?“, fragte ich ungläubig. Das konnte doch wohl nicht ihr Ernst sein! Wo war nur ihr gesunder Menschenverstand? „Ich bleibe, bis ich einen Weg gefunden hab, es rückgängig zu machen. Du glaubst auch, dass es hier angefangen hat, richtig?“

Während ich bedauerlicherweise nicken musste, holte sie tief Luft. „Na also, dann muss sich hier auch eine Möglichkeit finden lassen, es zu beenden. Man muss das Übel an der Wurzel packen.“ „Du willst das also wirklich durchziehen? Meinst du nicht, dass das ein wenig riskant ist? Was ist mit deiner kleinen Schwester? Willst du wirklich ins offene Messer laufen, wenn du dich nicht mal von ihr verabschiedet hast?“ Ich hörte, wie sie ihren Atem ruckartig entweichen ließ und auf den Boden schaute, als würde er die perfekte Lösung für sie bereithalten. Sie sah verletzt aus, als hätte ich ihren wunden Punkt getroffen.

Es war nicht meine Absicht gewesen, ihr wehzutun. Aber jetzt konnte ich es auch nicht mehr zurücknehmen. „Du willst wirklich Hadya gegen mich verwenden?“ Ihre Hand verschwand von meiner Schulter, stattdessen ballte sie sie zu einer grimmigen Faust. Ich wollte mich rechtfertigen, ihr erklären warum ich das tat, aber sie ließ mich nicht mal zu Wort kommen. „Weißt du was? Du kannst mich mal! Ich werde sicher nicht dabei zusehen, wie alles kaputt gemacht wird, was ich liebe. Von mir aus kannst du gerne aufgeben. Aber ich bleibe hier.“

Langsam stand ich auf und lief auf den Ausgang zu. Ich spürte, wie ihr Blick mir folgte, als wollte sie sicherstellen, dass ich auch wirklich ging. Die flatternden Leinen kamen mir entgegen und strichen über meine Haut. Bevor ich das traurige Zirkuszelt verließ, drehte ich mich nochmal um. „Du musst keine Heldin sein, Juvia“, sagte ich.

.-.-.-.

Während der ganzen letzten Tage hatte ich mich nicht so alleine gefühlt. Ich hatte erst ein Viertel des Weges hinter mir, und fühlte mich jetzt schon wie ein Stück Dreck, weil ich sie alleine gelassen hatte. Es war Verrat. Ich war ein elender Verräter, der sie alleine gelassen hatte. Mein Griff um den Felsvorsprung wurde lockerer. Sollte ich nicht doch lieber umkehren? Wir könnten doch sicher einen Mittelweg finden. Vielleicht ließe sie sich ja doch überzeugen, mit diesem Heldengehabe aufhören. Ich schüttelte den Kopf und zwang mich dazu, weiter zu klettern. Früher oder später hätten sich unsere Wege ohnehin getrennt. Es half uns nicht weiter, es hinauszögern, vor allem wenn sie unbedingt Selbstmord begehen wollte.

Allenfalls machten wir es nur noch schlimmer. Vielleicht war es sogar besser so. Am Anfang hatte ich gehofft, dass sie nach mir rufen würde, um mich zurück zu bitten. Aber dann hatte ich eingesehen, dass es zwecklos war. Trotzdem war ich enttäuscht, auch wenn es so vollkommen sinnlos war. Der Wind rauschte in meinen Ohren, und ich fragte mich, wo ich jetzt hingehen sollte. Ich war müde und ausgelaugt, aber ich setzte meinen Aufstieg dennoch fort. Es kam mir vor, als wäre mein Ziel noch endlos weit entfernt. Hoffentlich würde ich es überhaupt noch erreichen. Ob Juvia es wohl schaffen würde? Am Ende wäre sie vielleicht wirklich eine Heldin und ich hatte einfach nicht genügend Vertrauen in sie gehabt. Zuzutrauen wäre es ihr ja.

Sie war schließlich eine Löwin. Und dann hörte ich den Schrei, der mein Herz zerfetzen zu schien. Wenn sie schrie, musste irgendetwas entsetzlich schief gelaufen sein. Ich hatte irgendwie gewusst, dass es eine dumme Idee war, sie alleine zu lassen und trotzdem hatte ich meinen Stolz siegen lassen. Ich verfluchte mich selbst, als ich mir die Knie an den Felsvorsprüngen aufschürfte. Der Weg nach unten ging zwar schneller, überwiegend, weil ich einen Großteil der Strecke hinunter schlitterte, aber es kam mir trotzdem viel zu lange vor. Wie lange war es her, seit sie geschrien hatte? Vielleicht fünf Minuten. Und ich war noch immer mindestens fünf Meter vom Boden entfernt. Grimmig biss ich die Zähne zusammen, als ich mich fallen ließ, und zwei Meter tiefer, geduckt landete. Ich federte den Sprung so gut es ging ab, aber ich merkte trotzdem, wie meine Beine unter dem Gewicht ächzten.

Einen Moment hielt ich inne und wartete darauf, dass der Schmerz einiger gebrochener Knochen mich erreichte, aber er kam nicht. Offenbar war noch alles ganz, und so hastete ich weiter. Inzwischen war ich verdreckte, blutete an mehreren Stellen und der Boden kam mir noch immer viel zu weit entfernt vor. Bevor sie geschrien hatte, war mir der Weg nach oben ewig vorgekommen, jetzt galt dasselbe für den Abstieg. Ich konnte das Ticken der Uhr förmlich hören, während ich die Abhänge hinunterrutschte. Es erinnerte mich daran, wie ich als Kind ganz oben auf einer Rutsche stand und mir vorstellte, ich könnte einfach zurück auf den Boden fliegen. Jetzt wünschte ich es mir noch mehr als damals, denn es ginge so viel schneller.

Ich wusste nicht, zu welchem Gott ich beten sollte, dass es ihr gut ging, deshalb rief ich in Gedanken niemand bestimmten an. Wenn es wirklich irgendjemanden gab, der sie retten konnte, dann sollte er es doch bitte tun! Als ich endlich auf dem Boden des Kessels ankam, sah ich aus, als hätte ich die Hungerspiele gewonnen. Entsetzen war mir ins Gesicht geschrieben, meine Kleider waren halb zerfetzt und blutbefleckt, aber ich war auch erleichtert, endlich angekommen zu sein. Trotzdem gönnte ich mir keinen Moment der Pause. Ich rannte ohne zu zögern auf das flickenhafte Zirkuszelt zu.    

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Where stories live. Discover now