Kapitel 6 "Nachtstadt"

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Es war weit nach Mitternacht und ich und Juvia saßen im Krankenhaus. Keiner der Sanitäter hatte mit uns sprechen wollen, die Polizei war erst nicht gekommen, um uns zu befragen. Es wunderte mich zwar, aber es erleichterte mich gleichermaßen. Ich hatte keine Ahnung, ob die Eltern des Mädchens kontaktiert worden waren, aber ich nahm es an.

Juvia hatte uns an einem Krankenhausautomat etwas zu trinken gekauft. Eine Weile lang sah ich sie an. Sie wich meinem Blick zwar nicht aus, erwiderte ihn jedoch auch nicht. Es dauerte Minuten, bis ich mich dazu aufraffen konnte, die angenehme Stille zu brechen. „Warum bist du noch hier?"

Sie stellte ihren Kaffee auf einem Beistelltisch ab und faltete ihre Hände auf dem Schoß. „Ich bin neugierig. Du sagtest, im Internet hätte es keine Ergebnisse geben. Niemand könnte sie sehen und so weiter. Aber vor wenigen Stunden bist du gleich drei Menschen begegnet, die es sehr wohl können. Warum? Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass das bloßer Zufall war. Aber was war es dann?"

Ich war ihr dankbar dafür, dass sie noch hier war. Nachdem ich erfahren hatte, was dem Mädchen in einem der vielen Krankenzimmer hier zugestoßen war, wollte ich nicht alleine sein. Hier gab es zwar keine Spiegel, aber wenn sie ihn jetzt ohnehin verlassen konnte, war das keine Garantie dafür, dass ich heil aus der ganzen Sache rauskommen würde. Aber es war ein geringer Trost.

„Ich hab keine Ahnung. Offensichtlich weiß ich noch weniger über diese Spiegelbilder als ich dachte." Verzweifelt raufte ich mir die Haare, sie waren lang geworden, in den letzten Wochen. „Da drin ist ein Mädchen, das uns vielleicht mehr dazu sagen kann. Sie hat es berührt." Ich legte den Kopf schief und sah sie ungläubig an: „Sie ist auch fast dabei draufgegangen! Glaubst du wirklich, sie wäre so begeistert von der Idee, uns zu helfen?"

„Hör zu Ross. Der Mensch ist von Natur aus neugierig. Sie wird genauso wissen wollen, was da passiert ist, wie wir. Nach dazu weil es sie fast umgebracht hat. Wenn jemand versucht dich zu töten, was tust du dann?" Die weiße Beleuchtung des Wartezimmers ließ ihre Züge kalt und starr erscheinen. Ich dachte eine Weile lang nach: „Ich finde heraus, wie ich mich wehren kann."

Juvia nickte, wobei sich ihre braunen Locken aus ihrem Dutt lösten. „Genau. Sie wird höchstwahrscheinlich dasselbe tun wollen. Wir können ihr da am besten helfen. Vor allem du." Sie schlug die Beine übereinander und reckte das Kinn in die Luft. Ihre Haltung war gerade und bemüht stolz.

Ich legte nachdenklich die Fingerspitzen meiner Hände aneinander, während ich sie musterte. Es hatte etwas Gespenstisches, zu so nächtlicher Uhrzeit mit einer praktisch Fremden in einem sterilen Raum zu sitzen. Die Neonröhren über uns flackerten. „Ich weiß aber auch nicht mehr als ihr. Okay, von mir aus sehe ich sie. Und ich sehe sie schon länger, aber das war es auch schon. Sie hat mir noch nie etwas getan. Und ein kleiner Junge ist sie auch nicht."

„Es geht hier um das Prinzip. Ein Wesen im Spiegel, das da nicht hingehört. Du musst zugeben, dass es da ja wohl einen Zusammenhang gibt." Ich hätte vorhin einen ganz ähnlichen Gedanken gehabt. „Das schon. Aber hältst du es wirklich für richtig, ein vielleicht 15 Jahre altes Mädchen mit hineinzuziehen?"

Es war wahrscheinlich schon ein Fehler gewesen, Juvia in mein Geheimnis einzuweihen. „Merkst du nicht, dass sie längst mit drinsteckt?" Ich seufzte resigniert auf. Mit Juvia zu streiten hatte keinen Zweck, sie hatte nämlich Recht. Ich wollte es nur nicht einsehen. Zum Nachgeben war ich allerdings dennoch zu stur. „Lass uns warten, bis sie aufwacht und mit uns sprechen kann. Dann werden wir ja herausfinden, ob sie mehr darüber wissen will, oder nicht."

„Also gut", stimmte sie mir zu. „So machen wir es." Müde gähnte ich, wobei ich meine Arme ausstreckte, bis ich das Gefühl hatte, die Bänder würden gleich reißen. Ich war erschöpft. Es war ein langer Tag gewesen, die Hitze hatte ihr übriges getan und mir war langweilig. „Hast du Angst?", fragte Juvia mich. Sie log wirklich nicht, wenn sie sagte, dass der Mensch von Natur aus neugierig war.

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt