Kapitel 4 "Glaubenssache"

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„Ich glaube nicht an so einen Humbug." Juvia lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Die Lehne gab ein leises Ächzen von sich, als ihr Gewicht dagegen drückte. Ich ahmte ihre Bewegung nach, auch wenn sie bei mir eher trotzig wirkte. „Du hast sie selbst gesehen." Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ja, ich weiß. Aber es kommt mir trotzdem so seltsam vor. Du musst das verstehen, ich kann das nicht einfach so hinnehmen, ganz ohne Erklärungen." Natürlich, ich verstand das. Das Problem war nur, dass sie mir glauben musste. Es gab keine andere Wahrheit, die für sie mehr Sinn machen könnte. Ich hätte ihr zwar erzählen können, dass es sich bei dem Spiegelmädchen tatsächlich nur um einen Streich handelte, aber dann hätte sie Kameras, Beamer und die ganzen Sachen sehen wollen, die es dazu gebraucht hätte. Nur hätte es die nicht gegeben.

„Glaubst du etwa, ich würde lügen?" Sie seufzte und verdrehte die Augen. „Natürlich nicht. Oder doch. Genau das ist es. Weißt du, wie bescheuert es klingt, dass da angeblich ab und zu einfach ein Mädchen in deinem Spiegel auftaucht, das da nicht hingehört?"

Der breitschultrige Mann kam zurück, auf einem Tablett trug er zwei Flaschen. Dafür brauchte man natürlich auch extra ein Tablett, weil man das ja nicht so tragen konnte. „Gibt es ein Problem?", fragte er an Juvia gewandt. Sie lächelte zuckersüß: „Nein, ganz und gar nicht." Auch wenn man es ihr auf den ersten Blick vielleicht nicht zutraute, war sie gewitzter, als die meisten anderen Mädchen.

Im Leben hätte sich Courtney nicht mit diesem Bär von einem Mann angelegt. Aber das sprach auch nur von gesundem Menschenverstand. „Zahlen Sie jetzt oder später?" Ich hatte das Gefühl, dass der tiefe Bass seiner Stimme meine Knochen vibrieren ließ. Selbstverständlich bloße Einbildung.

„Später", kam sie mir mit ihrer Antwort zuvor. Ich hätte lieber jetzt gezahlt, dann hätte er keinen Vorwand mehr gehabt, wiederzukommen. Wenn es darum ging, jemandem von dem geheimnisvollen Mädchen im Spiegel zu erzählen, war ich vorsichtig. Die Leute, die sie nicht selbst sehen konnten, würden mich für verrückt halten. Selbst diejenigen, die sie sehen konnten -was nur auf Juvia zutraf- glaubten mir nicht wirklich.

Ich selbst hätte es bis vor zwei Jahren auch nicht für bare Münze genommen. Man glaubt erst an Wunder, wenn sie einem selbst widerfahren. Mit einem Nicken verschwand die Bedienung wieder. „Hör gut zu. Ich verarsche dich nicht. Himmel, wenn ich sie loswerden könnte, wäre das längst passiert, aber sie geht einfach nicht. Was muss ich tun, damit du mir glaubst?"

Sie holte tief Luft, runzelte die Stirn und schien zu überlegen. „Also gut. Bei mir Zuhause könnt ihr keinen Spiegel präpariert haben. Da wohne nur ich, und außer mir hat niemand den Schlüssel. Wenn sie dort auftaucht, glaube ich dir." Ich sah auf die Uhr an meinem Handgelenk; es war spät geworden. „Heute noch?" Mir gefiel die Idee, noch eine Weile länger von Zuhause wegzubleiben.

Juvia lehnte sich nach vorne und stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab. „Wann du willst. Am besten so schnell wie möglich, damit ich weiß, ob ich mich selbst in die Psychiatrie einweisen muss, oder nicht." Ich konnte ihre Zweifel verstehen, hatten sie mich doch selbst für eine ganze Zeit geplagt. Aber letztendlich musste man sich wohl oder übel damit abfinden, dass sie tatsächlich da war.

„Jetzt habe ich auch noch eine Frage an dich." Auffordernd sah sie mich an: „Raus damit." Nun lehnte auch ich mich auf meinem Stuhl nach vorne. Eindringlich sah ich sie an. „Warum kannst du sie sehen?", fragte ich. Wir sahen uns einige Moment in die Augen, doch anstatt eines Spiegelbildes war darin nur dunkles Braun zu erkennen.

Für einen Moment wunderte es mich, da ich auch in die Augen anderer oft nur einen Schatten von ihr erkennen konnte. Diesmal war nichts dort und es erfüllte mich mit Erleichterung. Schon nach wenigen Herzschlägen wandte sie den Blick ab. „Ich hab keine Ahnung. So was ist mir noch nie passiert und sie selbst hab ich auch noch nie gesehen. Bisher haben sich meine außergewöhnlichen Talente darauf beschränkt, dass ich durch die Nase trinken kann. Seltsame Geister zu sehen, gehört nicht dazu."

Das war interessant. Als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, war ich auch davon ausgegangen, dass es sich bei ihr um einen Geist handelte. Vielleicht ein Dämon, den man mit ein paar Zaubersprüchen exorzieren konnte. Die Tatsache, dass sie offenbar nicht zu altern schien, sprach dafür, aber sie hatte mir ja nie etwas getan. In allen Versionen von Geistergeschichten, waren sie stets fähig, sich frei zu bewegen. Sie konnte gar nichts. Oder sie wollte schlichtweg nichts tun, aber das lief auf dasselbe hinaus.

Egal wie man es drehte und wendete, etwas an ihr war paranormal. Und anders als in einem Film war sie kein Spezialeffekt. „Und warum glaubst du, ist sie bei dir?" Bevor ich ihr antwortete, nahm ich einen Schluck von meinem Getränk. Diesmal war es kalt, wie ich verwundert feststellte. „Ich hab echt nicht den blassesten Schimmer, was ich verbrochen habe."

„Manchmal sind es die Kleinigkeiten, die darüber entscheiden, ob wir gute oder schlechte Menschen sind." Zweifelnd betrachtete ich sie. „Außer welchem weisen Sprüchebuch hast du das denn geklaut?", fragte ich ein wenig belustigt. Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf: „Ich hab es wohl vergessen." „Du glaubst wirklich, sie wäre die Strafe für etwas, das ich getan habe?"

„Nein, ich bin nämlich völlig unschuldig und kann sie auch sehen", scherzte sie, wurde aber schnell wieder ernst. „Nehmen wir noch einmal an, dass ich dir das alles abkaufe. Das das Mädchen im Spiegel tatsächlich keine Einbildung oder ein schlechter Scherz ist, okay?" Sie glaubte mir offensichtlich schon, wollte jedoch noch einen unmissverständlichen Beweis dafür, dass ihre Existenz kein Streich war.

Sobald ich es ihr bewiesen hätte, würden sich unsere Wege wieder trennen. Ich konnte sie da nicht noch weiter mit hineinziehen, sonst würde sie noch ernsthaft an ihrer eigenen Zurechnungsfähigkeit zweifeln. Das tat sie vermutlich jetzt schon. Es sei denn, sie vertraute dem was sie sah mehr, als das, was logisch war. Solche Menschen sollte es auch geben, auch wenn ich kaum jemanden von dieser Sorte kannte.

Angenommen jemand wollte mir erzählen, dass es Elfen gab und würde mir ein Foto zeigen, als Beweis. Ich würde es ihm nicht glauben. Keine Sekunde lang. Es war nur ein Foto. Aber auch wenn ich mit eigenen Augen eine Elfe sehen würde, bliebe sie für mich ein Mensch im Kostüm. Das war eine der Marotten des Menschen; was er bisher für nicht real gehalten hatte, blieb auch falsch.

Allein die Tatsache, dass es ewig gedauert hatte, bis die Menschen akzeptiert hatten, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums und erstrecht keine Scheibe war, zeigte doch, wie engstirnig wir waren. Dabei konnten wir nichts dafür, es war einfach so. Wenn wir jahrelang an etwas geglaubt hatten, dass für uns logisch und wahr war, konnte man uns praktisch nicht von etwas anderem überzeugen. Selbst jetzt, wo ich ein fremdes Mädchen im Spiegel sah, glaubte ich nicht an Magie.

„Okay. Nimm das an", sagte ich. „Na gut. Ich glaube nicht an so übernatürliche Sachen. Aber rein hypothetisch müsste es doch mehr von ihrer Sorte geben, oder? Auf der Erde gibt es 7 Milliarden Menschen. Wir werden wohl kaum die einzigen sein, die mit solchen Dingen in Kontakt gekommen sind. Hast du schon mal versucht, jemanden zu finden, der so ist wie du? Also jemand, dessen Spiegelbild manchmal einfach eine fremde Person zeigt."

Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich nahezu täglich das Internet nach solchen Menschen durchforstet hatte. Aber die Resultate waren mickrig gewesen. Nach einigen Wochen der Recherche hatte ich es aufgegeben, im Netz nach Geschichten wie meiner zu suchen. Entweder gab es niemanden, dem dasselbe passierte, oder es traute sich einfach nur niemand, es zu veröffentlichen.

Es gab zwar einen Haufen dubioser Seiten, auf denen sich ein noch größerer Haufen Spinner herumtrieben, aber es gab keinen einzigen Eintrag zu dem, wonach ich gesucht hatte. Trotzdem hatte sie natürlich recht; die Wahrscheinlichkeit, dass es nur uns beide gab, die sie sehen konnten, lag praktisch bei null.

Vor allem nachdem wir uns jetzt getroffen hatten, grenzte es an Irrsinn, das anzunehmen. „Ich hab im Internet danach gesucht. Sein wir ehrlich, jeder der sich traut, offen darüber zu reden, kommt in eine Gummizelle. Kein Mensch, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat, glaubt diese Geschichte." Sie strich sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht, die sich vor ihre Augen verirrt hatte. „Aber wenn es mehr Leute gibt, die sie sehen können, wird sicher nicht jeder von euch für verrückt erklärt werden können. Sie werden euch glauben." Kopfschüttelnd winkte ich ab: „Würden sie nicht."

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Where stories live. Discover now