Kapitel 18 "Realitätenwechsel"

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Wenn es etwas gab, vor dem ich Angst gehabt hatte, dann war es der Verlust eines Menschen durch die Spiegelbilder gewesen. Ich hatte damit gerechnet, dass jemandem etwas passieren könnte, aber trotzdem war ich es gewesen, der Juvia alleine gelassen hatte. Schuldig reichte nicht einmal, um das zu beschreiben, wie ich mich fühlte. Unmittelbar vor den flatternden Leinen machte ich Halt. Sollte ich ihr wirklich helfen? Sie wollte meine Hilfe doch gar nicht... Ich könnte einfach gehen, als hätte ich ihren Schrei nicht gehört, ich könnte sie zurücklassen.

Aber ich wollte es nicht tun. Obwohl ich die Befürchtung hatte, dass mir der Anblick, der mich dort erwarten würde, nicht gefiele, machte ich zwei letzte Schritte. Stoff streifte meine Haut, als wollte er mich festhalten. Natürlich wollte er das nicht, aber es kam mir trotzdem so vor, als sollte ich nicht hineingehen. Als würde dort etwas warten, was ich nicht sehen wollte. „Juvia?", fragte ich gerade laut genug, damit sie mich hören könnte. Es kam keine Antwort. Ich hatte verschiedene Bilder vor Augen, aber eines hatten sie alle gemein; eine leblose Juvia, die blutüberströmt am Boden lag. Es fühlte sich an, als würden die Bilder mich von innen heraus lähmen.

Auf meinem Brustkorb lastete ein tonnenschweres Gewicht, das mich am Atmen hinderte. Es war mir ein Rätsel, warum ich erst jetzt so schwach wurde. „Juvia?" Diesmal reichte es für kaum mehr als ein Wispern. Es hätte mich nicht gewundert, wenn es jetzt angefangen hätte zu regnen, schließlich war das hier der Moment im Film, in dem es aus allen Wolken zu gießen anfing. In meiner Realität blieb es heiß und trocken, die angestaute Luft unter den Planen stickig und muffig. Ich konnte mich jetzt schon nicht mehr daran erinnern, warum ich zuvor hierhergekommen war. Es kam mir vor, als wäre es eine Ewigkeit her. Damals hatte niemand nach mir gerufen. Dieses Mal zwar auch nicht, aber es fühlte sich so an, als hätte ich an allem Schuld.

Fayola war zuvor bei mir gewesen; ich hatte vor allen anderen von den Spiegelbildern gewusst, wenn auch nicht, was sie vorhatten. Wenn ich mich früher getraut hätte, etwas zu sagen, hätte man sich vielleicht darauf vorbereiten können. So aber starben Menschen. Und anstatt ihnen zur Seite zu stehen, ließ ich sie im Stich. Manchmal sind es die kleinen Dinge, die darüber entscheiden, ob wir gute oder schlechte Menschen sind, hatte sie gesagt. Das hier war kein kleines Ding. Ich hätte bei ihr bleiben sollen, dann müsste ich mich jetzt nicht um sie sorgen. Das war nicht die ganze Wahrheit, das wusste ich, aber ich wollte es glauben. Ich wollte glauben, dass ich sie hätte beschützen können.

Aber ich hatte es nicht getan. Schritt für Schritt ging ich in die Dunkelheit. Es dauerte eine Weile, bis meine Augen sich an das gedimmte Licht gewöhnt hatten, doch es war mir nur recht. Das hier war der Moment vor dem Autounfall: man wusste genau, das etwas Entsetzliches passieren würde, konnte nicht wegschauen und wollte gleichzeitig nichts davon wissen. Juvia war mein Autounfall. Ich wusste nur noch nicht genau, welche Rolle ich darin spielte. Obwohl es zwecklos war, fragte ich nochmal nach ihr. Natürlich antwortete sie mir nicht, wie sollte es auch anders sein. Nur der rauschende Wind durchbrach die drückende Stille. Mein Blick fiel auf den Spiegel, in dessen Nähe ich Juvia erwartete, aber dort war sie nicht.

Nur ihr Blut, mit dem sich die Holzspäne vollgesogen hatten. Es war nicht viel Blut, nicht genug um ernsthaft in Gefahr zu sein. Trotzdem wurden meine Knie bei dem Gedanken weich, dass sie möglicherweise tot war. Aber wenn sie nicht mehr laufen hätte können, wo sollte sie dann hingegangen sein? Es gab nur einen Weg aus dem Tal heraus und der führte über die kesselartige Umrandung. Wenn sie draußen gewesen wäre, hätte ich sie sehen müssen. Aber da war niemand. Es gab auch keine Blutsspur, der ich hätte folgen können und auch wenn es noch so makaber klang, wünschte ich es mir in diesem Moment fast.

Ich wollte wieder ihren Namen rufen, um mich zu vergewissern, ob er nicht genauso verschwunden war wie sie. Aber ich tat es nicht: „Hallo?" Keine Antwort. „Hallo? Ist da jemand?" Ich fragte mich selbst, was ich erwartete. Glaubte ich daran, dass noch jemand außer uns hier war? Nein, ausgeschlossen, schließlich hatten wir niemanden gesehen. Aber wo war Juvia hin? Sie konnte sich ja schließlich nicht in Luft aufgelöst haben. Und ich hatte sie mir auch nicht bloß eingebildet. Juvia war dagewesen. Nicht so wie der Regen, der hier fehlte. Ich ging in die Knie und streckte meine Hand aus, um das blutige Holz zu berühren.

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Where stories live. Discover now