Kapitel 21 "Schleicherwind"

62 6 5
                                    

Als ich aufwachte, war es nicht mehr nur das Zirpen der Grillen, das mich aufweckte. Es dauerte einige Minuten, bis ich wach genug war, um zu realisieren, dass es das Geräusch eines Helikopters war. Ich rieb mir die Augen, während ich darauf lauschte, von wo es kam. Von Oben, was mich wenig verwunderte.

Vorsichtig stupste ich Juvia an, die neben mir schlief wie eine Leiche. „Aufwachen", zischte ich. Innerhalb der nächsten halben Minute öffnete sie zweimal die Augen, schloss sie daraufhin aber direkt wieder. Beim dritten Mal sagte sie: „Jetzt nicht, ich bin beschäftigt." Obwohl ich mindestens genauso müde war wie sie, machte sich jetzt Aufregung in mir breit. Wer wohl in dem Hubschrauber saß? Und was wollte er hier? Könnte es tatsächlich die Person sein, die die Schriften gefunden und das Tor zwischen den Welten durchlässig gemacht hatte?

Vielleicht konnte sie es dann auch rückgängig machen. Dann müsste Juvia nicht die Retterin spielen und ich musste mir keine Sorgen machen. „Wach auf, schnell." Ich rüttelte sie nochmal fester und diesmal behielt sie die Augen offen. Sie sah so aus, als würde sie mich am liebsten erdolchen.

„Was'n?", murrte sie gähnend. „Da kommt ein Hubschrauber." Man konnte buchstäblich sehen, wie die Räder in ihrem Kopf einrasteten. Fast erwartete ich, sie einrasten zu hören, als sie plötzlich hellwach war. Danach schwiegen wir beide und warteten darauf, dass er über uns hinweg fliegen würde. Es war dunkel, als rechnete ich damit, nicht entdeckt zu werden. Trotzdem machte ich mir irgendwie Sorgen. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass es nicht gut wäre, wenn man uns hier fände.

Aber ein besseres Versteck gab es nicht, und man konnte von hier oben wirklich das gesamte Tal sehen. „Wie konnte der Helikopter gestern Morgen hier rausfliegen, ohne dass wir es gehört haben?", fragte Juvia neben mir. Ihre Haut und ihre Haare verschmolzen in der Dunkelheit mit dem Fels, einzig ihre Augen glänzten in der Nacht.

„Keine Ahnung, eigentlich hätten wir das hören müssen. Aber das erklärt wenigstens, warum wir niemanden gesehen haben, der den Felsen hinaufgeklettert ist." Die Rotorengeräusche wurden allmählich lauter und für einige Sekunden glaubte ich sogar, den Wind zu spüren. Aber dann war es doch nur eine nächtliche Brise. Schließlich aber erreichte uns das Rattern und Rauschen der Motoren, als der Helikopter über unsere Köpfe hinweg schoss.

Der Wind zerrte an uns, aber wir lehnten uns gegen den Fels und hielten uns daran fest. Für einen Moment sah ich die blinkenden Lichter über mir, dann musste ich die Augen schließen, weil mir Sand entgegen peitschte. Vor meinen Lidern sah ich noch immer die Sterne leuchten, obwohl ich längst nach unten guckte. So musste es sich anfühlen, wenn jemand starb. Er war nicht mehr da - nicht mehr zu sehen, aber man bildete sich seine Erscheinung trotzdem ein, auch wenn man es besser wusste.

In diesem Moment machte es mich wieder richtig glücklich, dass Juvia nicht tot war. Sie saß neben mir, so dicht, dass ich ihre Körperwärme spüren konnte. Ich musste daran denken, wie ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. „Nettes Outfit", waren ihre ersten Worte zu mir gewesen. Sie hatte fast dasselbe getragen und sie hatte gelächelt. Damals hatte sie noch keine Ahnung gehabt, was der Menschheit bevorstand. Alles war gut gewesen.

Und dann war innerhalb von ein paar Stunden alles den Bach runter gegangen. Sie war ein Teil dieses Bachs, mitreißend und sprudelnd. Während der Helikopter landete, dachte ich darüber nach, was Juvia noch alles war. Ein Bach, eine Sternschnuppe vielleicht, bei der man sich etwas wünschte, wenn man sie zum ersten Mal sah. Ich hatte es schon mal gedacht, aber in diesem Moment sah ich es anders; Juvia war zwar mein Autounfall, aber sie konnte nichts dafür.

Sie war auch nicht blutig, oder zerbeult, sondern unvorhergesehen und so, dass man nicht weggucken konnte. Als die Geräusche aus dem Tal abebbten, wusste ich, dass wir uns bald auf eine nächtliche Kletterpartie einlassen würden. Mir war klar, dass Juvia nicht hier oben warten würde, bis die Chance verstrichen war. Nach allem, was ich wusste, war es nicht unbedingt eine schlechte Idee.

Schließlich mussten wir herausfinden, wem die Unterlagen in die Hände gefallen waren, damit wir alles rückgängig machen konnten. Und ich behielt recht, denn schon wenige Minuten nach dem es ruhig geworden war, schob sie sich über die Felskante.

„Was machen wir, falls wir erwischt werden?" „Nicht getötet werden? Schneller laufen und klettern, als die Person da unten? Und vor allem, das ist ganz wichtig: LASS DICH NICHT ERWISCHEN." Das waren doch mal hilfreiche Tipps und wenn ich nicht Angst vor der Antwort gehabt hätte, wäre da noch eine zweite Frage gewesen, die mich beschäftigte. „Was machen wir, falls einer von uns nicht nur erwischt, sondern auch geschnappt wird?"

Aber da Juvia darauf vermutlich auch keine richtige Antwort hatte, fragte ich nicht. Ich hoffte einfach nur, dass es nicht passieren würde. In Filmen klappte es jedenfalls fast immer. Und wenn nicht, wurde man immerhin gerettet. Während ich ihr nach unten folgte, versuchte ich mich darauf zu konzentrieren, nicht abzustürzen. Ein Genickbruch fehlte mir noch.

Es war bei Tageslicht schon anstrengend gewesen, die Strecke zu überwinden, aber bei Nacht war es praktisch unmöglich. Obwohl im Tal jetzt ein gigantisches, von innen leuchtendes, Zelt stand, erreichte das Licht den Felsen nur schwach. Es war zwar besser als gar nichts, aber wirklich helfen, tat es nicht. Immer wieder rutschte ich ab, oder verlor den Halt, auch wenn es mir jedes Mal gelang, mich wieder zu fangen.

Je näher wir dem Boden kamen, desto sicherer fühlte ich mich, weil ich nicht mehr so tief fallen konnte. Und trotzdem ging das mulmige Gefühl in meinem Magen nicht weg. Selbst als ich endlich wieder auf festem Erdboden stand, war da so eine Art Höhenangst, die mich davon abhielt, klar zu denken. Irgendwann kam ich auf die Idee, dass es nur Angst war.

Keine Nervosität, wie ich sie kannte, sondern echte Angst. Vielleicht sogar davor, was mir erst noch alles bevorstand, denn wenn ich Juvia wirklich begleiten wollte, wäre es nicht damit getan, herauszufinden, wer aus dem Helikopter gestiegen war. Falls sie Angst hatte, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken.

Normalerweise war sie nicht wirklich gut darin, ihre Emotionen zu verstecken. Beispielsweise leckte sie sich immer über die Unterlippe, wenn sie nervös war. Jetzt allerdings machte sie einen eher selbstsicheren Eindruck auf mich. Es war erstaunlich, wie sich die Menschen situationsbedingt veränderten. „Was jetzt?", flüsterte ich, auch wenn wir noch weit genug vom Zelt weg waren, um in normaler Lautstärke zu sprechen. „Wir schleichen uns an, was sonst? Und dann gucken wir, wer da drin ist."

„Das wird uns ja total weiterbringen. Für wie wahrscheinlich hältst du es, dass wir den da drin kennen? Und selbst wenn, was wollen wir mit der Information?" „Kennst du nicht das Sprichwort, ‚du musst deinen Feind kennen, um ihn besiegen zu können'?" Das kam mir vage bekannt vor, aber ich wusste nicht, woher. Wahrscheinlich war es einfach gängig in irgendwelchen Filmen.

„Na gut, wenn du meinst", gab ich widerwillig nach und folgte ihr in Richtung Zelt. Jetzt, wo es von innen heraus leuchtete, war es fast noch gespenstischer als bei Tag. Die Laken bewegten sich sanft im Wind, als wäre das Zelt ein gigantisches Tier, das atmete. Es fehlte nur noch, dass sich zwei gespenstische Augen öffneten. Die Metallstreben, die das Gerüst bildeten, blitzen immer wieder zwischen dem Weiß auf. Ohne den Stoff sähe es wahrscheinlich aus, wie ein stählernes Skelett. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir den Eingang des Zelts erreichten, weil wir immer wieder innehielten und uns allgemein nur langsam bewegten.

Das mit dem Anschleichen nahmen wir beide ernst, weil es sich so verboten anfühlte, hier zu sein. Als Kind hat man oft Angst bei etwas erwischt zu werden, das man nicht tun sollte und genauso fühlte ich mich jetzt. Wie ein Kind, das hier eigentlich nichts zu suchen hatte. Mit einem Kopfnicken gab mir Juvia zu verstehen, dass ich einen Blick ins Innere des Zelts werfen sollte. Ich zögerte eine Weile, dann machte ich zwei Schritte nach vorne und steckte langsam den Kopf zwischen zwei Laken hindurch.

Meine Erwartungen hatten sich bisher in Grenzen gehalten; was sollte da drin auch sein, das ich noch nicht kannte? Wir hatten stundenlang nach etwas gesucht, das uns Informationen liefern konnte, und bis auf Fayola war absolut nichts Interessantes dabei gewesen. Ich erwartete einen Menschen, der vielleicht vor dem PC saß, und etwas auf den Spiegel projizierte, aber das war da nicht.

Stattdessen war da ein kleiner, rundlicher Mann mit einer Glatze, der vor dem Spiegel stand. Und in dem Spiegel waren Menschen. Nicht einer, und auch nicht zwei, sondern sicher zehn, die sich vor die Fläche drängten. Konnten sie mich sehen? Der Mann hatte mir zwar den Rücken zugewendet, aber die Spiegelwesen hatten es nicht. Das Blut gefror mir in den Adern und ich schluckte einen Kloß hinunter. Vielleicht hätten wir doch nicht herkommen sollen.

------------------------------------------------------
Frohes neues Jahr euch allen :)

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt