21. Kapitel

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Christian:

„Du wolltest mich sprechen?" Meine Mutter betritt mein Büro und schließt die Tür hinter sich.
„Allerdings!", beginne ich meinen Vortrag. „Ich muss die Bewerbungen lesen. Unbedingt. Außerdem möchte ich Columbia rausschmeißen, Volksliebling hin oder her. Auch Unbedingt. Ihr Verhalten vorhin war unakzeptabel! Nicht nur, dass sie aus der Reihe getanzt ist, so wie eigentlich immer, nein, sie hat uns auch in aller Öffentlichkeit blamiert. Alles wurde Live gesendet!"
Ich will gerade wieder ansetzen, da unterbricht mich Mutter: "Aber sie hatte Recht. So ein kluges Kind. Du wirst sie natürlich nicht rauswerfen, denn es war ihr volles Recht, den Fehler zu melden. Das hättest du doch an ihrer Stelle genauso getan."
„Nicht auf diese Art und Weise!", entrüste ich mich nun etwas lauter. Meine Füße fangen an, vor Aufregung auf und ab zu wippen.
Meine Mutter schüttelt genervt den Kopf. „Sie lernt doch noch. Mensch Christian, es ist doch erst der zweite Tag für die Mädchen hier. Auch sie müssen sich erstmal an die Gesamtsituation gewöhnen. Was hast du überhaupt gegen Columbia? Sie ist doch so ein höffliches, liebes und gebildetes Mädchen."
Nach dem letzten Satz ihrerseits stoße ich ein leicht unglaubwürdiges Lachen aus, springe vom Stuhl auf und fange an im Raum hin und her zu laufen. Ich kann echt nicht mehr still sitzen! Warum mögen sie alle nur so? Selbst Alexandra scheint sich mit ihr zu verstehen. Alexandra... Beinahe hätte ich das erste ‚Date' mit ihr verbringen können. Mir war klar, dass sie weit vorn landen würde.
Mutter unterbricht meine Gedanken jäh, als noch genervter als zuvor ausstößt: „Christian, jetzt krieg dich mal wieder unter Kontrolle! Was ist denn nur los mit dir? Ich habe mir schon vorgestellt, dass das Casting nicht leicht für dich werden würde, aber dass du dich so anstellst?
Du bist der zukünftige König Illéas. Wie willst du ein ganzes Land regieren, wenn dich diese nun 34 Mädchen hier im Palast schon so aus der Fassung bringen?"
Das hat gesessen. Mir fällt nichts ein, was ich darauf erwidern könnte, denn damit hat sie mir komplett den Wind aus den Segeln genommen. Doch nach einer halben Minute geht mir ein Name durch den Kopf. Dieser eine Name, dieses eine Mädchen. „Es ist doch nur Lady Columbia! Sie ist an allem Sch..."
„Das ist doch noch schlimmer! Ich weiß nicht, was du gegen sie vorzubringen hast, aber du wirst sie nicht rausschmeißen und das sind meine letzten Worte!" Damit dreht sie sich um und versucht die Tür noch relativ ruhig hinter sich zu schließen.
Nachdem ich ein paar Minuten einfach nur dagestanden habe, setze ich mein hin und her Laufen fort. Tanner, der für einen Moment das Zimmer verlassen hatte, steckt seinen Kopf herein und sieht mich mit großen Augen und einem fragendem Blick an.
„Lassen Sie mich bitte kurz allein", beantworte ich seine stille Frage und schon ist nichts mehr von ihm zu sehen.
Warum muss dieses Mädchen auch noch so schlau sein? Warum kann sie nicht so ein Nichtsnutz sein, wie so manch anderer? Was habe ich gemacht, um so etwas zu verdienen?
Ich atme einmal tief durch. Und dann noch ein Mal.
Mutter hat recht: Ich muss mich zusammenreißen! Ich muss es als Aufgabe sehen. Wenn ich das schaffe, schaffe ich es auch Illéa zu regieren. Das wird zwar nicht meine leichteste Aufgabe, aber ich werde sie meistern. Irgendwie.
Mit neu geschöpftem Enthusiasmus setze ich mich wieder an meinen Schreibtisch, doch da fällt mir erneut etwas ein, was ich in die hinterste Ecke meines Unterbewusstseins geschoben habe. Mein erstes Date morgen ist mit ihr! Oh nein, oh nein, oh nein. Bitte nicht. Das darf nicht wahr sein! Echt nicht!
Alexandra war zweite. Die Zweite! Fast hätte ich mein erstes Date mit ihr verbringen können. Mit ihr hätte ich so viele schöne Dinge tun können. Mir ist zu Ohren gekommen, sie sei eine hervorragende Reiterin, Standardtanz kann sie auch ausgezeichnet gut, aber was soll ich mit der nervigen Columbia unternehmen? Sie kriegt es noch nicht einmal hin, mich zu siezen.
Ich würde irgendetwas machen, wobei wir nicht mehr reden müssen als nötig. Ich weiß nicht ob sie reiten kann und das würde ich mir auch lieber für Alexandra aufheben. Beim Tanzen wäre mir zu viel Hautkontakt mitinbegriffen, aber was spräche gegen einen ruhigen Spaziergang durch den Garten, wo ich ihr ein paar grundlegende Dinge über den Palast erkläre? Vielleicht kriege ich es hin, dass sie ihren Mund hält.
Ich nehme mir einen Zettel von meinem Stapel und schreibe mir meine Date-Einfälle für andere Mädchen auf und überlege mir zusätzlich noch, wen ich aufgrund der Testergebnisse nach Hause schicke. Nach einigem Hin- und Herüberlegen und nachdem ich mir erneut die Begrüßungsgespräche ins Gedächtnis gerufen habe, entscheide ich mich für Lady Emma Reeker und Lady Laisa Rice, die die Selection verlassen werden.
Mein Blick gleitet zur Uhr und ich bekomme einen Schreck. Es ist schon nach 20 Uhr, dabei wollte ich Lea doch eine gute Nacht wünschen. Naja, zu spät zum Weiterarbeiten ist es auf jeden Fall, denn für den nächsten Tag brauche ich bestimmt viel Schlaf. Es würde mir nichts Nutzen, wenn ich nicht ausgeschlafen wäre, also erhebe ich mich von meinem Sessel und verlasse mein Büro. Sofort heftet sich Tanner an meine Fersen.
„Das vorhin klang ja selbst von draußen unschön", murmelt er bestürzt, während er zu mir aufschließt, da ich ein ordentliches Tempo vorlege.
„Haben Sie etwa gelauscht Officer Tanner?" Ich drehe mich zu ihm um und strafe ihn mit einem tadelnden Blick. Das wäre nicht das erste Mal für ihn. Ich kann mich noch nicht mal an eine Unterhaltung erinnern, während der er nicht heimlich zugehört hat, selbst wenn er es nicht zugeben will.
Er sieht mich erschrocken an. „So etwas würde ich doch niemals tun! Was denkt Ihr nur von mir, Euer Hoheit?" Ich muss schmunzeln, was ihn dazu bewegt mitzumachen. Und schon ist das Thema vom Tisch. Mit einer warnenden Handbewegung signalisiere ich ihm jedoch, dass ich jetzt keine Lust habe, darüber zu reden. Vielleicht morgen.
Sobald ich in das Stockwerk, in dem sich die Gemächer meiner Familie befinden, komme, höre ich Lärm. Erstens sollte es hier niemals laut sein und zweitens erst recht nicht um diese Uhrzeit. Was ist hier los?
Ich beschleunige meine Schritte, renne schon fast, und gelange nach wenigen Sekunden in den Gang, in der sich die Lärmquelle findet. Das Zimmer von den Zwillingen. Wie unerwartet.
Mit aufsteigender Wut nähere ich mich ihren Zimmern. Tanner scheint wohl zu merken, was ich vorhabe und versucht mich vergebens zu beruhigen. Die Beiden haben mich einfach schon zu oft auf die Palme gebracht.
In deren Alter war ich nicht so kindisch, unvernünftig, nicht lernfähig und unreif. Ich war sowieso nie etwas in der Art. Ok, vielleicht war ich damals noch nicht so reif wie heute, aber deutlich reifer als sie.
Bevor ich zu ihnen gelange, mache ich nochmal vor Leas Zimmer halt und stecke meinen Kopf herein. Ihre Zofen wuseln hilflos um die noch nicht schlafende Lea rum.
Vanessa, ihre Oberzofe, entdeckt mich und meint völlig verzweifelt. „Prinz Leopold und Prinz Lennard sind so laut, dass Prinzessin Lea einfach nicht einschlafen will, Euer Hoheit. Wir wissen nicht, was wir noch alles versuchen sollen. Außerdem klagt sie darüber, dass Ihr sie eigentlich ins Bett bringen wolltet. Ich habe wirklich versucht, ihr zu erklären, dass Ihr viel zu tun habt, gerade jetzt, wo die Ladys da sind, sie möchte jedoch nicht auf mich hören. Eigentlich ist es töricht, so etwas von Euch zu verlangen, aber könnt Ihr uns bitte helfen, Euer Hoheit?"
Da ich zu wütend bin, um irgendetwas zu sagen, nicke ich nur und gehe zu der Tür, die in Lennards Räume führt. Gerade, als ich diese öffnen möchte, schwingt mir diese entgegen und knallt fast gegen meinen Kopf. Lennard kommt, gefolgt von Leopold, durch die Tür gestürmt und rennt mich zusätzlich fast um. Len kann, im Gegensatz zu Leo, noch abbremsen, während sein Bruder voll in ihn hineinläuft.
Lennards Augen weiten sich vor Schreck, als der Schock auch schon vorbei ist, er laut „Oh oh. Komm lauf, jetzt gibt's Ärger!" schreit und Leopolds Hand greift, um mit ihm kehrt zu machen. Sie verlassen schnellstmöglich den Gang.
Ich möchte gerade hinterherhechten, da höre ich die Stimme meiner Mutter, die bis gerade eben noch gemütlich, Hand in Hand mit meinem Vater die Gänge, auf dem Weg zu ihrem Gemach, langgelaufen war: „Was ist denn hier los?"
Sobald sie mein vor Wut rot angelaufenes Gesicht sieht, das ich ihr entgegen strecke, klärt sich ihre Miene auf und sie ruft genervt „Die Zwillinge!" aus.
Ich nicke. „Ich kümmere mich zusammen mit den Wachen schon um meine Geschwister, doch könnte bitte einer von euch nachschauen, was mit den Bediensteten der Zwillinge los ist, dass sie den Beiden noch nicht hinterhergestürmt sind?" Ich sehe meine Eltern flehend an.
Mutter und Vater nicken synchron, verschwinden in Lennards Zimmer und schließen die Tür hinter sich.
Ich drehe mich in die Richtung, in der das L-Doppelpack verschwunden ist, und will ihnen gerade hinterherlaufen, da kommen mir zwei Wachen mit jeweils einem der beiden Zwillinge auf der rechten Schulter entgegen.
Der Rechte wendet sich an mich: „Euer Hoheit, diese Zwei sind uns bei unserer Patrouille durch die Gänge über den Weg gelaufen und da wir uns dachten, dass das gewiss nicht der Norm entspricht, haben wir sie einfach mal mitgebracht."
„Vielen Dank, Officer Collin und Officer Laurence. Könnten Sie bitte so freundlich sein, uns kurz allein zu lassen?", erwidere ich, als die Beiden vor mir abgesetzt werden. Die Wachen nicken, verbeugen sich und treten weg.
Dann wende ich mich meinen Geschwistern zu, die mich gleichzeitig verlegen und panisch anschauen.
„Ab, in mein Zimmer. Sofort!" Ich versuche meine Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen und schiebe sie währenddessen in die gewünschte oder eher verlangte Richtung. Tanner schließt die Tür netterweise hinter uns, bleibt aber draußen.
Lennard und Leopold stehen steif vor mir und schweigen. Wenigstens haben sie mittlerweile verstanden, dass es für sie am besten ist, wenn sie in solchen Momenten den Mund halten.
„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ihr seid mal wieder zu weit gegangen. Was sollen wir denn bitteschön mit euch machen? Ihr gehört doch zur Königsfamilie! Sollte man dort nicht besseres Benehmen voraussetzen? Was habt ihr zu eurer Verteidigung zu sagen?" Ich sehe die Beiden erwartungsvoll an.
Zuerst setzt Lennard an, zu sprechen, doch stattdessen boxt Leopold ihn in die Seite und beginnt zu erklären: „Uns war langweilig und wir hatten die Idee, dass wir unsere Wachen und Kammerdiener ablenken und dann abhauen könnten, um mal etwas neues zu erleben. Das Ganze ist aber ein Bisschen aus dem Ruder gelaufen...", Lennard sieht ihn mit einem vernichtenden Blick an, „Wir haben hier nie etwas Spannendes zu tun. Immer müssen wir nur irgendwelche öden Sachen lernen und das nur, weil wir Prinzen sind. Dir mag das zwar Spaß machen, aber wir sind anders. Wir mögen es, Sport zu machen, etwas zu unternehmen und etwas zu erleben. Egal was, die Hauptsache ist, nicht still zu stehen. Wir sind halt nicht so wie du, weder Vernünftig noch Verantwortungsbewusst. Lennard und ich, wir passen hier nicht hin. Außerdem machen wir doch sowieso alles falsch." Damit beendet Leopold seine Rede.
Ich bin sprachlos. Nie hätte ich gedacht, dass die Zwillinge so denken könnten. Ich habe immer geglaubt, sie täten das alles aus Lust an der Laune, doch da habe ich mich wohl oder übel getäuscht. Sie wollen Aufmerksamkeit, denn würden sie nicht immer dieses Theater veranstalten, würden sie gar keine erhalten.
Ich breite meine Arme aus, gehe einen Schritt nach vorn und schließe sie um meine Brüder.
Ich muss unbedingt mit unseren Eltern sprechen, denn Leopold hat wirklich Recht. Es muss sich etwas ändern!
Zuerst sind die Beiden ziemlich perplex, doch nach ein paar Sekunden erwidern sie meine Umarmung.
Nach einer Weile lösen wir uns voneinander und Leopold wendet sich an mich: "Du wirst mal ein guter König."
Darauf Lennard: "Oh, ja."
Ich sehe sie erstaunt an. Den Zwillingen ist bestimmt nicht klar, wie viel mir ihre Worte bedeuten.
"Ich weiß." Damit drehe ich mich um und gehe mit ihnen aus meinem Zimmer.
Unsere Eltern stehen abwartend im Gang und kommen sofort auf uns zu. Sie sehen immer noch genervt aus, Mutter mehr als Vater.
Ich versuche die Situation ein bisschen aufzulockern: "Die Beiden hatten ihre Gründe, bitte hört euch sie in Ruhe an. Das muss dringend geklärt werden. Entschuldigt mich jetzt jedoch, da ich noch etwas Dringendes zu tun habe.", damit drehe ich mich um und gehe zu Lea.
Lea sitzt heulend auf ihrem Bett zwischen ihren all' ihren Kuscheltieren und Kissen. Ich ziehe mein Stofftaschentuch aus der Tasche und eile nervös zu ihr.
"Meine kleine Prinzessin, es ist alles gut! Das mit den Jungs hat sich geklärt. Bitte, hör auf zu weinen. Ein Lächeln steht dir viel besser", versuche ich mit möglichst ruhiger Stimme sie zum Aufhören zu bewegen. Das "möglichst ruhig" gelingt mir dabei nicht ganz. Ich kann überhaupt nicht damit umgehen, wenn jemand weint. Während ich ihr das Taschentuch reiche nickt sie heftig mit dem Kopf.
"Ja, ich ... hör schon ... auf. Jetzt ... bist du ja ... da. Dann ist alles gut." Sie fällt mir um den Hals und ich drücke sie fest an mich.
Dann lege ich sie wieder vorsichtig ins Bett und Decke sie ordentlich zu. Ich streiche ihr die Haare aus ihrem Gesicht und rücke mir einen Stuhl neben ihr Bett.
Als ich mich zu den Zofen drehe, sehen diese mich komisch an. Ich werfe ihnen einen verwirrten Blick zu, doch sie drehen sich ganz schnell und tun so, als wäre nichts gewesen.
Ich schüttle den Kopf, hole ein Buch aus Leas Regal und setze mich auf den Stuhl. Lea kuschelt sich tiefer in die Decke hinein und ich schlage ihre Lieblingsgeschichte auf.
Während ich lese, merke ich, dass Leas Augen langsam kleiner werden. Sobald sie endgültig eingeschlafen ist, klappe ich leise das Buch zu, stelle es zurück und gebe ihr einen leichten Kuss auf die Wange.
Ich verlasse ihr Zimmer und gehe rüber zu mir. Jetzt bin ich wirklich müde und erschöpft.

Selection - Die ZweiteWhere stories live. Discover now