Das würde mir nie wieder passieren

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„Wake up!"
Erschrocken riss ich die Augen auf.
It's nine o'clock! C'mon!"
Ich setzte mich auf, zog die Beine unter der Decke an und rieb mir die Augen. Ich neigte den Kopf ein Stück zur Seite, um Samu anzusehen. Er trug einen weißen Maleranzug, hatte die Kapuze auf den Kopf gezogen und den Gummizug zugezogen, sodass man nur noch den ovalen Ausschnitt des Gesichtes sah.
„Wohin?", gähnte ich.
„Upstairs."
„Und dann?"
„Lady", Samu zeigte mit den Fingern an sich herunter, „what do you think, warum ich trage diese thing? Damit ich bin nicht cold?"
„Gute Nacht", meinte ich und zog mir die Decke über den Kopf.
Er wollte streichen.
Jetzt.
Keine Ahnung, wie er auf diese Schnapsidee gekommen war.
Wir hatten den gestrigen Abend nach dem Konzert noch gemeinsam ausklingen lassen. Es gab Wein, Bier und ein paar Pinnchen Salmiakki, die Osmo und Samu wie Wasser herunterkippten. Lediglich Riku und ich mussten mit etwas anderem nachtrinken. Irgendwann hatte ich mich an die Bardame gewandt, die witzigerweise die einzige Person in Helsinki zu sein schien, die –neben mir- perfekt Hochdeutsch sprechen konnte. Wir unterhielten uns, während sie mir einen Kakao nach dem andere spendierte.
Noora kam aus Turku, wuchs in Konstanz in Baden-Württemberg auf und war im Alter von zehn Jahren mit ihrer finnischen Mutter zurück nach Finnland gegangen. Studiert hatte sie in Helsinki und war –nach dem Abbruch- des Mathematikstudiums einfach geblieben. Der eigentliche Plan war nur so lange zu kellnern wie nötig. Noora wollte zurück nach Deutschland und einen zweiten Versuch an irgendeiner Universität starten. Aber sie verdiente gutes Geld, so dass es ihr schwer fiel, in Helsinki alles aufzugeben und wieder die Schulbank zu drücken. Vor allem außerhalb ihres gewohnten Umfelds.
Ich hatte mich an dem Abend sehr gut mit ihr unterhalten. So gut, dass wir uns für den nächsten Tag am Nachmittag zum Kaffee verabredeten.
„Stand up!", schrie Samu, „five minutes!"
„Ich bin müde", nuschelte ich.
„Komm!", sagte er bestimmend, zog die Decke von meinem Körper auf den Boden und ging zum Treppenabsatz, „four minutes."
„Ich muss später zum Kaffee mit Noora!", protestierte ich nochmal, während ich mich aufsetzte und die Decke zurück in das Bett zog, „da kann ich nicht aussehen wie der letzte Mensch, weil mein Freund morgens um 09.00 Uhr streichen möchte!"
Ich hörte Samus Schritte auf der Treppe.
„You mean five minutes after nine", korrigierte er mich und ging mit einem Lächeln auf den Lippen wieder runter.
Widerwillig und müde schlurfte ich ins Bad, zog den Malermantel über eines von Samus Shirts, die mir bis zu den Knie gingen und zog die Kapuze auf, als ich die Treppe runterging.
Es roch bereits intensiv nach Farbe und Samu öffnete gerade einen weiteren Farbeimer.
„Rot oder blau?"
„Was?"
„Willst du rot oder blau?"
„Blau."
„Give me your hand", er streckte die Finger in meine Richtung aus und winkte damit.
„Samu, ich bin wirklich müde und hab gerade keine Lust auf diese Spielchen."
„I know. Deswegen ich bin schon fertig but I need something more."
Ich schaute mich um.
Tatsächlich hatte er schon gestrichen.
Der Flur im Eingangsbereich war nicht mehr weiß, sondern irgendwie pudrig.
Oder sandig. Pudersand vielleicht. Er wirkte direkt größer und wohnlicher. Und gar nicht mehr steril.
Sofort überkam mich ein schlechtes Gewissen.
Ich hatte Samu so angemeckert, weil ich zu wenig geschlafen hatte und er war schon unterwegs gewesen, hatte Malersachen im Baumarkt besorgt und –soweit ich es aus meiner Position sehen konnte- für Frühstück gesorgt.
„You hand", brummte er etwas genervt.
„Scheiße, tut mir leid."
„Your hand."
„Ich wollte nicht zicken."
„Emma", er atmete genervt aus, „deine Hand."
Sofort streckte ich ihm meine Hand entgegen. Samu nahm sie, rollte mit einer kleinen Rolle die blaue Farbe darüber und stand auf.
„Tut mir leid", entschuldigte ich mich nochmal, „du stellst hier alles auf den Kopf, streichst, besorgst noch Frühstü..."
„Pssssht", unterbrach er mich leise und zog mich zu der Wand neben der Eingangstür, wo bereits ein roter Handabdruck zu sehen war.
Das erinnerte mich sehr stark an eine andere Situation, in einer anderen Wohnung, in einem anderen Land, in einer anderen Stadt.
„Follow your heart", grinste Samu, zeigte auf die Wand, ging in die Küche und ließ mich allein im Flur stehen.
Ohne auch nur eine Sekunde lang nachzudenken, drückte ich meine Hand etwas versetzt auf Samus Abdruck und zog ihn vorsichtig von der Wand ab.
Er war unglaublich.
Ich legte den Kopf schief und begutachtete das Kunstwerk so lange, bis ich das Tippen auf meiner Schulter wahrnahm.
„Hier die pen", Samu hielt mir einen Permanentmarker vor die Nase.
Ich lächelte ihn über meine Schulter hinweg an, griff nach dem Stift und schrieb schnörkelig „follow your heart" neben unsere Handabdrücke.
„I thought du fühlst mehr home, wenn die hands sind wieder da", meinte Samu und legte seine Hände von hinten auf meinen Bauch.
„Ich kann mich gar nicht noch mehr zu Hause fühlen", meinte ich, verstaute den Stift in der kleinen Tasche des Maleranzugs und drückte meinen Rücken gegen seine Brust, „dass du das alles tust ist der Wahnsinn."
„Ich werde machen nie wieder", ich hörte ihn Lächeln, „want you to feel good in diese house."
Und ich liebte dieses Lächeln.
Mehr als alles andere auf dieser Welt.
„Ich fühl mich gut. Sehr sogar."
„Good", Samu drückte mich fester an sich, vergrub seinen Kopf an meiner Halsbeuge und küsste mich sanft.
„Ich brauch das alles gar nicht", wisperte ich und legte meine Hände fest auf seine, „so lange du da bist."
Er verschloss unsere Hände miteinander und drehte mich zu sich um.
„Now ich habe Farbe auf meine hands", zwinkerte er und sah mir tief in die Augen.
„Ich auch."
„No problem?"
„Nein", ich schüttelte langsam den Kopf.
„Good", meinte er wieder, beugte sich zu mir herunter und drückte seine Lippen auf meine Stirn.
Ich schloss die Augen.
Es war einer dieser Momente, die mich wirklich spüren ließen, wie glücklich ich mit Samu war. Schon an die 1000 Mal hatte er meine Stirn geküsst, aber diese Situation war um so vieles inniger und intimer.
Wir waren in seinem Haus, in dem ich auch irgendwie wohnte.
Wir teilten das Bett miteinander und schliefen abends gemeinsam ein.
Dieses Gefühl wollte ich nie wieder vermissen.
„Ich bin glücklich mit dir", flüsterte ich.
„Same here", Samu legte die Finger an mein Kinn und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen.


Silvester.

Das Haus war voller Menschen.
Unzählige.
Überall hatten sich Gäste zu Gruppen zusammengeschlossen, aßen und tranken miteinander. Samu hatte sich als Gastgeber um die Getränke und die Böller gekümmert, der Rest sollte mitgebracht werden. Allein durch Sami, Raul, Osmo, Mikko und Riku konnten wir den kompletten Esstisch mit Essen vollstellen. Nach unserem Kaffeetrinken einige Tage zuvor, hatte ich Noora gefragt, ob sie vielleicht auch kommen wollte. Ich verstand mich super mit ihr. Außerdem hasste sie Fisch und war manchmal genauso pedantisch wie ich. Sie hatte noch verschieden belegte Pizzen aus dem Café mitgebracht, so dass wir gut versorgt gewesen waren.
Neben den Jungs aus der Band waren natürlich auch alle Ehefrauen dabei, ebenso wie Niila mit seinen Geschwistern, Samus restliche Familie, inklusive seiner Nichten. Viele von den Anwesenden waren auch Spieler des IFKs; für mich vollkommen fremde Menschen. An einen konnte ich mich erinnern, weil er auch bereits zu Samus Geburtstag gekommen war. Den Namen hatte ich allerdings vergessen.
Zu meinem Leidwesen war Mirja auch ein Teil dieser Feiergesellschaft. Sie grüßte mich zwar, hatte mich aber im gleichen Moment auf ihre Tötungsliste gesetzt. Fast wäre mir ein „tut mir leid, dass Samu Gehirn besser findet als Silikontitten" rausgerutscht. Aber weil ich Anstand hatte, konnte ich mir diesen Kommentar gerade eben noch verkneifen.
Ich saß in dem Spotlight der Terrassenlampe auf einem Gartenstuhl, war in eine Wolldecke eingewickelt und rauchte, als Noora mit weit aufgerissenen Augen zu mir raus kam und in die Hände klatschte.
„Gott, den Typen musst du sehen."
„Wen?", fragte ich freudig, blies den Rauch in die Luft und stand auf.
„Hans?", Noora rutschte die Brille auf die Nasenspitze.
„Hans?"
„Irgendwas mit H."
„Hans?", wiederholte ich unglaubig.
„Bitte komm und guck dir den an. Ein Schnittchen sag ich dir", Noora schnalzte mit der Zunge und klatschte nochmal in die Hände.
Finnische Musik dröhnte aus den Lautsprechern, als ich die Balkontür hinter uns schloss. Die Stimmung war super und niemand saß mit Angela Merkel-Mundwinkeln in irgendeiner Ecke. Kaisa und Fanni saßen mit Oma Eve, Sanna und Santtu am Wohnzimmertisch und winkten mir zu. Ich grinste und winkte zurück.
„Welchen Typen meinst du?", wollte ich von Noora wissen und drehte mich suchend im Kreis.
„Groß, braune Haare, Bart."
„Dann ist es nicht Saukki", sagte ich zu mir selbst du stellte mich auf die Zehenspitzen.
„Was?"
„Nix", grinste ich, „woher kennst du den denn?"
„Der war schon öfter mit Samu im Carusel."
Ich starrte nachdenklich auf den Boden.
„Hans?"
„Nee", schmatzte Noora und stieß mir gegen die Schulter, „mit H irgendwas."
Im Kopf ging ich mein finnisches Namensverzeichnis durch, was ich mir innerhalb von einer Sekunde ausgedacht hatte.
Was klang möglichst finnisch?
Herman, Henrik, Henri, Heino, Heikki, Harri, Hannu.
„Keine Ahnung", meine Lippen vibrierten, „du meinst aber nicht Hannu, oder?"
„Doch!", schrie sie, „Hannu! Hannu!"
„Hannu?"
„Hannu, ja!"
„Bitte sag, dass das nicht wahr ist", lachte ich, „der kann doch nicht mal seinen Namen schreiben."
„Muss er ja auch nicht", lächelte sie spitzbübisch, „der soll mir nur zeigen, wie sein Hockeyschläger aussieht."
Ich lachte.
„Ladies", Samu legte seine Hände von hinten um unsere Schultern und drehte uns, „darf ich zeigen die beste Sunrise Avenue Fan on earth?"
„Moi", Hannu verbeugte sich vor uns.
Noora machte zeitgleich einen Knicks und ich hob nur die Hand und lächelte.
Er war ein ekliger Kerl. Dauerbetrunken und unsympathisch. Samu hatte mir Videos gezeigt, auf denen er ein altes Sunrise Avenue-Shirt trug und sich komplett volllaufen ließ.
„Oluen?", fragte Noora Hannu und bekam darauf ein breites Grinsen als Antwort. Sofort war sie mit ihm in der offenen Wohnküche verschwunden; zu meiner Erleichterung.
Samus schwerer Arm lag immer noch auf meiner Schulter und er machte nicht den Anschein, ihn irgendwann dort wieder wegzunehmen. Wir gingen gemeinsam zurück auf die Terrasse.
„Hast du fun?", fragte Samu, nahm seinen 5-Kilo-Oberarm von meiner Schulter, um mir die Decke überzuwerfen und sich seine Zigarette anzuzünden.
„Ja, schon. Du auch?"
„Sure", grinste er paffte einige Male.
„Wie lange noch?", wollte ich wissen.
„Altes Jahr?"
„Ja."
Samu zog sein Handy aus der Hosentasche.
„15 minutes left. Hast du wishes for the new year?"
„Natürlich", schmunzelte ich, „du?"
„Sure", nickte er langsam, „but ich sa..."
„Pupu!", piepste es plötzlich.
Samu sah verstört zur Balkontür, während ich mich nur wegdrehte.
„Hei", brachte er verstört hervor.
„Ich hol mir ein Bier, möchtest du auch was? Wenn ich hier bleibe, ramme ich ihr aus Versehen eine meiner Haarklammern in ihre Brüste und dann fliegt sie weg."
„Or in ihre Kopf", stimmte Samu leise zu, „der effect ist die same.
„Leider, ja", ich zog mitleidig die Schultern hoch.
„Ich nehme eine beer. Kiitos suosikki", grinste Samu, bevor ich mich angeekelt an dem Silikonbomber vorbeischob und die Wolldecke neben der Tür auf den Boden fallen ließ.
Noora und Hannu standen immer noch in der Küche und unterhielten sich. Vielleicht hatte er doch mehr Gehirnzellen, als ich erwartet hatte. Weil ich nicht stören wollte, grinste ich beide nur kurz an, holte zwei Dosen Karhu-Bier aus dem Kühlschrank und ging wieder zurück in Richtung der Terrasse.
Zu meiner Verwunderung waren Samu und Mirja schon längst wieder drin. Sie standen vor der Balkontür und Mirja ließ keine Gelegenheit aus, um ihn irgendwo anzufassen. Während sie redete flog ihre Hand immer wie zufällig über seine Oberarme oder den Bauch. Ich stellte die beiden Bierdosen auf die Ecke des vollgestellten Esstischs, schlug auf die Verschlüsse und öffnete sie, bevor ich ganz gezielt in die Richtung der beiden ging.
Ich war nicht eifersüchtig; weil ich wusste, woran ich bei Samu war. Aber es ging mir tierisch gegen den Strich, dass sie ihn ununterbrochen angrabschen musste. Ich kannte Mirjas Beweggründe und die machten sie für mich nicht unbedingt sympathischer.
„Moi", grinste ich und räusperte mich, als ich Samu das Bier hinhielt und die Unterhaltung ganz provokant störte.
„Hi", quietschte Mirja und setzte ihr falschestes Grinsen auf.
Kurz überlegt ich, mir doch an den Hinterkopf zu fassen und die Haarnadel herauszuziehen.
„Tämä on tyttöystäväni", Samu nahm mir das Bier ab, grinste mich an und legte seinen Oberarm wieder auf meine Schulter, „kiitos."
„Hyvin onnellinen", gab ich zurück und schmiegte mich an ihn.
„Ah", Mirja grinste breit und zeigte allen ihre gebleachten Beißerchen.
„Hauskaa iltaa", sagte Samu freundlich, nickte und ging mit mir im Arm zu Osmo und Riku, die auf dem Sofa saßen und die Salmiakkiflasche studierten.
„Titöi was?", wollte ich wissen und trank einen Schluck.
„Freundin", ein Grinsen huschte über seine Lippen, „tyttöystäväni."
Ich grinste auch und versank in Samus Augen, die in diesem Moment so unendlich viel Liebe ausstrahlten.
„Sorry guys", Osmo tippte mir auf die Schulter und ließ mich auftauchen, „three minutes left."
„Three minutes left!", rief Riku laut und klatschte mehrmals in die Hände.
Wie bei einer Brandschutzübung stürmten plötzlich alle Leute mit leeren Flaschen und Feuerzeugen bewaffnet auf die Terrasse. Selbst Fanni und Kaisa.
„Let's go", grinste Samu und küsste meine Stirn.


Die ersten Raketen wurden bereits in den Flaschen platziert, da standen Samu und ich eng umschlungen, etwas abseits in die Wolldecke gewickelt und starrten gen Himmel. Wie jedes Jahr gab es einige Menschen, die die Uhr entweder nicht richtig lesen konnten oder nicht wollten.
„Kybä!", setzte Sami plötzlich laut ein.
„Ysi, kasi, see, kuu, vii", fuhr ein finnischer Chor inklusivem meinem Finnen fort, „nee, koo, kaa, yy!"
Mit der letzten Silbe wurde der Himmel hell erleuchtet und von überall flogen Raketen in die Luft und explodierten am Nachthimmel.
„You owe me something", sagte Samu und streichelte unter der Decke über meinen Rücken.
„Ich weiß", reckte ich mich schmunzelnd, „ich hab da 2015 irgendwas vergessen."
„Oh yes", grinste er breit und griff an meinen Po.
Meine Hände umfassten Samus Gesicht und die Daumen streichelten über seinen Bart.
„Happy new year", sagte ich und küsste ihn.
Samu umfasste mich fest an der Hüfte, zog mich eng an ihn heran und biss mir auf die Unterlippe.
2015 in der Tonhalle hatte ich auf das hier verzichtet.
Das würde mir nie wieder passieren.
Das wusste ich jetzt.
Nie nie wieder.
„Hapa", hörte ich Hannu laut rufen, „c'mon!"
Samu küsste mich noch einige Male, strich mir die Haare hinter die Ohren und lehnte seine Stirn an meine.
„Frohe neue Jahr, suosikki", wisperte er nah an meinem Gesicht.
„Hapa!", schrie Hannu wieder und klatschte in die Hände.
„Ich freu mich auf nachher", ich klimperte mit den Wimpern und sog seine Unterlippe ein.
„Stop doing that, wenn wir sind nicht alone."
„Warum?", neckte ich ihn.
„You know why", er zog die Augenbrauen hoch, küsste mich nochmal und schlug mir auf den Hintern, bevor er zu Hannu ging, „can't wait!"
„Ich auch nicht", sagte ich zu mir selbst, als Noora mir ein Glas Sekt anbot und mich umarmte.


Den restlichen Abend über sah ich Samu nur ganz kurz. Wir rotierten alle irgendwie, wünschten jedem ein frohes neues Jahr und unterhielten uns mit dem, der gerade kam. Bei der Anzahl an Gästen war das auch kein Wunder. Ich hatte mich um 04.00 Uhr –nachdem ich davon ausgegangen war, selbst mit dem besoffenen IFK-Spielern gesprochen zu haben- mit Noora auf das Sofa gesetzt und kalte Pizza gegessen. Samu war immer noch unter den immer weniger werdenden Gästen unterwegs, lachte viel und laut und schien jedem mindestens einen Witz zu erzählen. Vielleicht erzählte er auch jedes Mal den gleichen. Er wirkte jedenfalls irgendwie unausgeglichen und drüber.
„Was hat er?", fragte Noora und legte den Rand der kalten Gemüsepizza in den Karton, „als hätte man ihm den Traubenzucker zu hoch dosiert."
„Keine Ahnung", ich zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck Bier, „er hat doch auch vorhin noch was gemixt. Vielleicht war das Wodka mit einem Energydrink."
„Stimmt. Das könnte sein", stimmte sie mir lachend zu und nahm sich ein neues Stück, als Samu mit Hannu im Arm auf uns zukam.
„Hey", er stützte sich rechts und links auf die Lehne des Sofas ab und drückte mir einen Kuss auf, „tanzen wir noch?"
„Hm?", fragte ich und zog den Mund schief.
„Tanzen? Wir? Party? Club? Now? Die anderen gehen home und wir gehen together? You, me, Noora and Hannu?"
„Also ich bin raus", meinte Noora kopfschüttelnd, „ich hab morgen die Spätschicht und würde dann jetzt gehen."
„No tanze", warf Hannu ein.
Samu stemmte sich hoch und sagte irgendwas auf Finnisch zu Hannu. Ich sah Noora fragend an; sie hatte aber nicht zugehört, weil sie mit dem Stück Pizza beschäftigt gewesen war.
„Nähdään kohta!", rief die Gruppe, bei der Samu gerade noch gewesen war in unsere Richtung.
„Nuku hyvin!", sagten wir vier gleichzeitig und winkten ihnen zu.
Als die Haustür ins Schloss fiel, waren wir nur noch unter uns.
„Was ist denn jetzt?", wollte Noora wissen.
„No dance", sagte Samu, klopfte Hannu auf die Schulter, verbeugte sich vor Noora und ging die Treppe ins Schlafzimmer hoch.
Noora blinzelte und legte ihren blonden Flechtzopf nach hinten.
„Was hat er?"
„Weiß ich nicht", musste ich leider zugeben und nahm den Pizzakarton von meinem Schoß, bevor ich aufstand, „fahrt ihr zusammen?"
„Ich werd ihn mitnehmen, ja. Das ist kein Umweg."
„Pass auf, dass er dich nicht anfasst", grinste ich und umarmte Noora.
„Das sag ich ihm dann. Gut aussehen reicht leider nicht immer", schnaufte sie enttäuscht, während wir zur Tür gingen.
„Also ist er nichts für dich?"
„Nur zum Gucken. Ich will nicht mal mit ihm ins Bett."
„Also ist er wirklich gar nichts?", bohrte ich, um sie zu ärgern.
„Ich sag nur Toastbrot", grinste Noora und öffnete die Tür, „schlaf gut. Es war schön mit euch."
„Das fand ich auch."
„Ich ruf dich morgen an, vielleicht kannst du dich ja zwischen den Terminen mit Niila noch irgendwie freischaufeln."
„Das wäre schön", lächelte ich und winkte ihr nochmal zu.
Hannu war einfach stupide hinter Noora her gelaufen und winkte, bevor er in ihren Fiat stieg.
Ich schloss die Tür, als sie die Auffahrt verlassen hatten, ließ die Rollladen herunter, löschte das Licht und ging dann auch hoch ins Schlafzimmer.
Samu lag bereits bäuchlings in Boxershorts im Bett und hatte alle Viere von sich gestreckt.
„Kommst du in bed?", nuschelte er in das Kissen.
„Ich geh noch eben ins Bad."
„Ich bin tired. Hurry up!"
Ich huschte leise ins Badezimmer, zog das Schlafshirt, das früher oder später sowieso nur noch störend war, über und schminkte mich ab.
Was hatte er denn plötzlich für einen Stimmungswechsel? Keine zehn Minuten zuvor wollte er noch in die Innenstadt fahren und in irgendeinem Schuppen tanzen gehen. Und jetzt? War er müde wie ein 80-jähriger Mann.
Nachdem ich mir die Haare gekämmt hatte und keine Zahnpasta finden, öffnete ich den hohen Badezimmerschrank neben dem Waschbecken, um eine neue herauszuholen. Weil sie mal wieder ganz hinten stand, leerte ich ungewollt den halben Schrank aus. Haarspraydosen, Shampoos, Deodorants und Duschgele. Schnell räumte ich alles wieder zurück und drückte die Zahncreme auf meine Zahnbürste.
„Emmi?", rief Samu laut.
„Hm?", ich schaute mit der Zahnbürste im Mund durch die Badezimmertür.
„I need was gegen meine Kopf", Samu hatte seinen Kopf auf die Knie gelegt, „something against headache."
„Apirin?"
„What?"
„Apirin?", ich wollte nicht sabbern und hielt die Hand schützend unter mein Kinn.
„Ist in die bathroom in die cupboard. Next to die shampoo. In die Fach. Kannst du mir geben please?"
„Akla", sagte ich undeutlich und schloss die Tür wieder hinter mir.
Ich putzte zu Ende, spülte mir den Mund nochmal aus und zog einen Blister Aspirin aus der Ablage. Dabei fiel auch ein kleines Plastiktütchen heraus, in dem ein weißes Pulver –Mehl oder Backpulver- gewesen sein musste, denn die Tüte war leicht milchig.
Plötzlich beschlich mich ein ganz komisches Gefühl.
„Emmi", rief Samu wieder.
Mit dem Plastiktütchen in der Hand und dem Blister in der anderen ging ich aus dem Badezimmer und setzte mich zu ihm auf das Bett.
„Hier", ich warf ihm den Blister zu und reichte ihm die volle Wasserflasche, die auf meiner Bettseite stand.
„Thank you", er verzog schmerzverzerrt das Gesicht, drückte eine Tablette aus dem Blister, schluckte sie runter und spülte mit fast einem halben Liter Wasser nach.
„Das ist aus dem Regal gefallen, als ich die Aspirin gesucht hab", sagte ich trocken und hielt das Plastiktütchen zwischen meinen Fingern.
„What?"
„Das ist rausgefallen."
„Aha. Komm her now."
„Was ist das?", ich verzog die Mundwinkel und wich mit dem Oberkörper zurück.
„Eine bag?"
„Für?"
„Oh c'mon. Das ist keine große Ding."
„Nicht?"
„Emmi", Samu setzte sich gerade hin, nahm mir die Tüte ab und hielt meine Hand, „as I was young I habe genommen manchmal eine line. Das ist keine große Ding. Auf Parties wie heute evening."
Ich schob die Unterlippe nach vorne und seufzte.
„Auf jeder Party?"
„Hell", Samu lachte, „no. Nur sometimes as I was younger."
„Find ich scheiße", sagte ich heraus, „find ich richtig scheiße."
„Ich habe genommen die first time now since a few years. Ten maybe. Ich bin keine Junkie, you know me. Das war eine Mal after all this time."
„Ich find das wirklich nicht gut", sagte ich niedergeschlagen, „das ist total gefährlich und macht Menschen zu Zombies."
„Ich finde auch nicht gut. Ich habe keine gute Gewissen now", er senkte den Kopf und sah auf die Bettdecke, „sorry."
„Samu?", ich drehte seinen Kopf wieder zu mir, „versprich mir, dass du den Scheiß nie wieder anfasst."
„Das war eine fucking idea", er legte den Kopf schief.
„Das war gar keine Idee", verbesserte ich ihn, „lass die Finger von dem Zeug."
„Ich nehme nicht täglich, das war die eine Mal jetzt. Hell. I don't know, why people nehmen diese Zeug."
„Versprichs mir. Bitte."
„I promise", Samu hob drei Finger, „never ever again."
Ich lächelte, beugte mich zu ihm herüber und küsste seine Wange.
„Schlaf gut."
„Traum schon, suosikki", sagte er und löschte das Licht.

Just friends?Where stories live. Discover now