Null

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Keine Ahnung, wie ich es geschafft hatte, aufzustehen.
Keine Ahnung, wieso ich es wieder so weit hatte kommen lassen.
Keine Ahnung, wieso ich auf der Couch saß und auf den ausgeschalteten Fernseher starrte; die nackten Beine unter dem viel zu großen Shirt versteckt.
Keine Ahnung, wie Samu es geschafft hatte, mich wieder verliebt zu machen.
Verliebt.
Das war das Wort, was es treffend beschrieb.
Ich hätte nicht nach Barcelona fahren sollen, um mich dort bei ihm auszuheulen und dann mit ihm zu schlafen.
Verzweifelt klopfte ich mehrere Male mit der geballten Faust auf das Sofa.
Wenn ich dort nicht betrunken gewesen wäre, wäre alles das nicht passiert.
Barcelona war der Schmetterling.
Der Schmetterling, der für diesen Butterfly-Effekt aus der Chaostheorie verantwortlich war.
Oder war es Jan?
Der mich mit seiner Art in Samus Arme getrieben hatte?
Verliebt.
Ich war von mir selbst erschrocken.
In Samu.
Schon wieder.
Ich lachte, schüttelte den Kopf und warf ihn anschließend in den Nacken.
Das war gleichzeitig abwegig und absurd.
Aber eine Tatsache, die ich nach dieser Nacht nicht mehr leugnen konnte. Samu hatte mir –bis zu seinem plötzlichen Verschwinden- das Gefühl gegeben, besonders und einzigartig zu sein. Ich fühlte mich geborgen und verstanden.
Ich griff nach meiner Tasche, die einer von uns vor oder während unseres kleinen Intermezzos auf den Boden gelegt hatte und suchte mein Handy.
Jan hatte versucht, mich anzurufen und dann eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen.
„Ich kann nicht schlafen, wenn du nicht neben mir liegst", säuselte er in den Hörer, „ich liebe dich."
Angewidert streckte ich die Zunge raus und runzelte die Stirn.
Was sollte dieses geschwollene Gequatsche?
Wut überkam mich.
Ich hatte nichts gegen etwas Romantik, aber Jan überspannte ständig den Bogen.
Abgesehen davon, dass ich ihn nicht liebte.
Gar nicht.
Null.
Jan war so ziemlich der letzte Mensch, der irgendetwas in mir auslösen konnte, was mit Zärtlichkeiten und Intimität zu tun hatte, geschweige denn mit Liebe.
Sofort löschte ich sein geschwollenes Geschwafel von der Mailbox und öffnete das Chatfenster von Samu und mir.
Das letzte Mal online, bevor er fluchtartig die Wohnung verlassen hatte.


Schneller als erlaubt war ich die Straße hochgerauscht und auf die Hauptstraße gefahren. Was war mir in den Sinn gekommen, Emma nach dem Konzert zu Hause aufzulauern, wie ein Psychopath vor ihrer Wohnungstür zu warten und dann mit ihr zu schlafen?
Die Ampel an der Königsallee, Ecke Markstraße, sprang auf rot und verbot mir jegliche Raserei. Es war niemand auf der Straße, aber bei meinem Glück versteckten sich in irgendeiner Ecke zwei Polizisten in zivil, hätten mich angehalten und mir ein saftige Geldstrafe auferlegt.
„Paska!", schrie ich laut und klopfte auf das Lenkrad ein.
Erst ganz leicht, dann fester.
Wütender.
Die Situation erinnerte mich an meine Flucht aus dem Parkhaus, als Emma Helsinki nach meinem Geburtstag verlassen hatte.
Sofort fiel mir der Vergleich mit ihr und dem Kaffee wieder ein.
Ich liebte Kaffee.
Am besten mit einem Schuss Milch.
Aber nur, wenn er heiß war.
Aufgewärmt überließ ich ihn lieber anderen Menschen.
Menschen, die ihn besser herunterspülen konnten, wenn er nur noch lauwarm war.
Das hatte sich nicht geändert.
Und auch Emma hatte sich nicht geändert.
Ich war erleichtert, ihr gesagt zu haben, dass sie nicht mehr melden sollte.
So würde sich dieses komische Gefühl, welches ich ihr gegenüber entwickelt hatte, verflüchtigen und irgendwann ganz verschwinden.
Wohlbefinden war nicht das richtige Wort, das Emma dafür ausgewählt hatte.
Ich fühlte mich gut.
Mit wohlfühlen in ihrer Nähe hatte das wenig zu tun.
Sie bestätigte mich in dem, was ich tat.
Ich hatte immer noch genug Charme, um die Frauen, mit denen ich schlafen wollte, rumzukriegen.
Sie kam auf ihre Kosten, ich kam auf meine Kosten und ging.
So war es immer gewesen und so schnell wollte ich daran nichts ändern.
Dass ich wenige Stunden bei Emma geschlafen hatte, lag lediglich daran, dass ich für die Fahrt fit sein wollte.
Da konnte eine rothaarige Halbschwedin noch so sehr mit ihrer Unterlippe bibbern.
Ich wollte Sex.
Nicht mehr.


Schnell hatte ich den Gedanken, Samu zu schreiben, verworfen. Es hätte keinerlei Effekt oder Auswirkung auf seine Worte gehabt.
Ich sollte mich nicht mehr bei ihm melden und dieser Bitte wollte ich nachkommen.
So schizophren wie ich war.
Vielleicht fehlte mir auch einfach eine Person, mit der ich offen reden konnte.
Leni kam nicht in Frage. Sie war viel zu sehr mit ihrer Hochzeit und damit beschäftigt, mich immer wieder zu tadeln, wenn es um Jan ging. Außerdem hatte ich ihr vor nicht allzu langer Zeit gesagt, dass alles in Ordnung sei.
Das war es nicht.
Schon lange nicht mehr.
Ich hatte Jan mehrere Male betrogen.
Und letzte Nacht mit mehr als einem reinen Gewissen.
Samus Anwesenheit in meiner Wohnung war genau das, was ich gewollt hatte.
Was ich die letzten Monate und Jahre vermisst hatte.
Ihn zurück in meinem Leben; als ein riesiger Teil davon.
Mit Daniel und Julian konnte ich auch nicht reden. Unglaublich war, dass meine beste Freundin im Bezug auf das Foto auf der Eisbahn nichts gesagt hatte. Das wäre eine mittlere Katastrophe gewesen. Auch, weil Daniel sich bis heute darüber ärgerte, nicht da gewesen zu sein, als es mir so schlecht ging.
Ebenso fielen meine Eltern durch das Raster.
Sie hassten Samu.
Alle.
Plötzliche Traurig- und Hilflosigkeit überkam mich und trieb mir die Tränen erneut in die Augen.
Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, einem Mann zu gefallen, der mich nicht wollte und den meine Familie nicht leiden konnte. Die Wahl, vor die Samu mich gestellt hatte, war keine wirkliche Option. Entweder Sex oder Freundschaft.
„Fuck", rief ich, als mir bewusst wurde, dass er mir mit seiner Kontaktsperre beide Möglichkeiten genommen hatte.


Ich parkte das Auto auf dem Hinterhof des Hotels, lief die wenige Meter vom Parkplatz zum Hoteleingang, begrüßte die Empfangsdame mit einem Kopfnicken und ging schnurstracks durch die großzügige Lobby des Park Inn in der Bochumer Innenstadt. Im Aufzug drückte ich den Knopf für die siebte Etage und zog die Schlüsselkarte aus meiner Hosentasche. Mit der anderen Hand checkte ich die verpassten Anrufe auf meinem Smartphone. Mirja hatte mir unendlich viele Nachrichten geschickt, in denen sie sich nach meinem Aufenthaltsort erkundigte. Mein Kopf ratterte unaufhörlich. Warum hatte ich sie mit auf Tour genommen? Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass das hier ein Männerding war. Normalerweise zogen wir abends um die Häuser der Stadt, in der wir uns aufhielten, gingen in die Sauna und tranken Bier, bevor wir uns in unsere Zimmer verzogen und schon die Koffer für den nächsten Tag zusammen packten. Stattdessen vögelte ich Emma und hatte eine dumme Malerin mitgeschleppt. Beides waren blöde Einfälle. Aber Emma war eine dümmere Idee gewesen.
Keine Ahnung, warum ich es hatte soweit kommen lassen.
Nachdenklich zog ich die Mundwinkel nach rechts und links und kräuselte die Nase. Wenn Emma mich nicht geküsst hätte, wäre ich einfach zurück ins Hotel gefahren und hätte den Abend mit Mirja im Bett verbracht. Ich wäre von mir aus niemals so weit gegangen. Emma war eine Freundin, bei der ich mich mit einem Essen entschuldigen wollte. Dieser Kuss war alles andere als geplant.
Den Schuh wollte ich mir nicht anziehen.
Warum auch?
Ich hatte nicht damit angefangen, Freundschaft und Sex miteinander zu vermischen.
Das war sie ganz alleine.
Der plingende Ton des Fahrstuhls riss mich aus meinen Gedanken.
Leise schlich ich über den Flur, wollte gerade meine Tür öffnen, als mir ein Geistesblitz kam.
Ich tippelte auf Zehenspitzen ein Zimmer weiter und klopfte laut an die Tür.
Sofort öffnete Mirja und grinste mich verschlafen an.
Ich packte sie grob am Handgelenk, zog sie zu einem Kuss nah an mich heran und lud mich damit selbst ein, die restlichen Stunden bis zur Abfahrt bei ihr zu bleiben.


Nach dem Duschen zog ich einen alten Pyjama mit Spaghettiflecken über und verzog mich erneut auf der Couch. Ich ließ meinen Blick schweifen und blieb an der Stelle neben dem Türrahmen hängen, wo sich Samus und mein Handabdruck befunden hatten. Ich wusste nicht mehr, wie oft Leni mit der Farbrolle über die bunte Farbe gegangen war, bis es nicht mehr zu sehen war. Irgendwann war es einfach weg gewesen.
Follow your heart.
Was waren die Möglichkeiten, die ich hatte?
Alle Hotels in Bochum und Umgebung abtelefonieren und ihn stalken?
Ihm hinterher reisen?
Wozu überhaupt?
Ich hatte die Hände um seinen Bauch geschlungen; im nächsten Moment durfte ich ihn nicht mehr anfassen.
Er war durch mit mir.
Er wollte das alles nicht.
Plötzlich war ihm eingefallen, dass er Liebe und Sex und Freundschaft nicht trennen konnte.
Bei seinen Bettgeschichten schien das überhaupt kein Problem zu sein.
Wir waren gut befreundet, warum also diese Freundschaft nicht durch Spaß aufpeppen?
Niemand sprach von Hochzeit und Kindern. Er hätte lockerer reagieren können. Samu war ruhig geblieben. Aber seine Worte waren dafür umso härter.
„Aber da ist etwas zwischen euch ", meldete sich meine innere Stimme zu Wort.
Genervt rollte ich die Augen.
Wenn da wirklich etwas zwischen uns war und Samu auch nur annähernd das gleiche Gefühl hatte, wie ich – warum konnte man darüber nicht reden und da weitermachen, wo wir aufgehört hatten?
Er schlief mit mir, machte mir Komplimente, war zärtlich und liebevoll. Das tat man nicht, wenn einem die andere Person völlig gleichgültig war.
Bevor ich mir irgendwelche Szenarien ausmalte, griff ich nach dem Handy auf dem Tisch und schrieb Robin, dass ich dringend Osmos Nummer brauchen würde, weil ich sie verlegt hatte.
Wenn Samu mich irgendwann mal erwähnt hatte, dann nur bei Osmo.
Die restliche Band wusste schließlich nicht, dass ich Emil war.

Just friends?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt