Weil ich wirklich verliebt in ihn war

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Der Wasserkocher plöppte laut, als ich gerade das Badezimmer verließ. Langsam goss ich mir einen Pfefferminztee auf und kuschelte mich mit einem schwedischen Teil der Harry Potter-Reihe auf die Couch. Schon vor viel zu langer Zeit hatte ich damit angefangen, mich aber auf Grund meiner mittlerweile sehr schlechten Vokabelkenntnisse immer wieder vor dem Weiterlesen gedrückt. Aber heute, an Neujahr, ging es mir wirklich gut und ich war gewillt, wenigstens eines dieser vielen Kapitel zu schaffen. Ohne an einer Vokabel wie „dessutom" zu verzweifeln.
Ich war ausgeschlafen und hatte schon während des Wachwerdens beschlossen, die Seele baumeln zu lassen, ehe ich am darauffolgenden Tag wieder in die Redaktion musste, um an der ersten Mitarbeiterversammlung des neuen Jahres teilzunehmen.
Ich hörte, wie Herr Panke mit dem Schneeschieber über den Gehweg kratzte und sah jetzt zum ersten Mal bewusst hinaus auf die Straße. Innerhalb weniger Stunden hatte es mindestens 30 Zentimeter Neuschnee gegeben. Die Autos waren komplett zugeschneit, die Äste der Bäume gaben unter dem Gewicht der weißen Pracht nach und ließen feine Eiskristalle auf die Seite des Bürgersteiges fallen, die mein Vermieter gerade so mühevoll freigeschaufelt hatte. Wütend drehte er sich um, trampelte auf der Stelle und riss die Arme in die Luft. Dabei fiel die Schneeschaufel zu Boden und er fluchte noch lauter. Ich schüttelte lachend den Kopf, klappte das Buch zu und schlüpfte in meine Gummistiefel, die im Flur standen.
„Herr Panke, hallo!", rief ich und stürmte die Treppe hinauf, „ich übernehm das!"
„Frau Holmberg", er wirkte positiv überrascht, „das ist doch nicht nötig. Sie waren an Weihnachten dran."
„Da habe ich aber nicht selbst gemacht", entgegnete ich mit einem Lächeln auf den Lippen und hob den Schneeschieber vom Boden auf.
Er sah mich erlöst an.
„Danke. Ich hätte mich vergessen, wenn mir dieser blöde Schnee nochmal auf meinen freigeschaufelten Weg gefallen wäre."
Ich nickte ihm verständnisvoll zu, wünschte ihm einen schönen Resttag und begann den Schnee zur Seite zu schieben.
Das letzte Mal, als es so sehr geschneit hatte, war Jan der Mann der Stunde gewesen.
Jan.
Was hatte mich nur dazu getrieben, ihn anzurufen?
Sein Weltbild passte weniger als gar nicht zu meinem. Zudem schien er sich seine Sünden mehr oder weniger selbst auszusuchen. Sex vor der Ehe war für ihn offenbar mehr als in Ordnung, während Sex unter gleichgeschlechtlichen Partnern auf keinen Fall erlaubt war. Wenn ich an etwas glaube und dafür einstand, so dachte ich, tue ich das ganz –also aus voller Überzeugung heraus- oder nicht. Aber das, was Jan an den Tag legte, war widersprüchlich in jeder Hinsicht.
Und trotzdem fühlte ich mich zu ihm hingezogen.
Auf einer Seite war er der Mann, der mit Homosexualität nichts anfangen konnte. Auf der anderen Seite brachte er mich zum Lachen, hatte Humor und liebte mich.
Trotz meines Bruders, der mit einem Mann verheiratet war.
Zusammenfassend war das ganz allein sein Problem. Ein weiteres Gespräch würde nichts bringen. Ich selbst war damals bei Daniels Outing die Person gewesen, die sich schwor, ihn zu unterstützen und Personen, die mit seiner Art zu leben nicht zurechtkamen, zu umgehen.
Dazu gehörte auch Jan.
Und trotzdem wollte ich ihn meinem Leben haben.
Weil ich Bauchkribbeln bekam, wenn er in meiner Nähe war, mich küsste, mich umarmte.
Weil ich wirklich verliebt in ihn war.
Am Anfang war genau das nicht geplant gewesen, aber ich hatte Jan schon viel zu sehr in mein Leben gelassen, als dass eine Freundschaft möglich gewesen wäre. Nach dem Kuss im Schwimmbad fühlte ich mich eher schlecht. Weil ich wusste, warum ich es getan hatte. Ich handelte nicht selbstlos, blendete Jans Gefühle für mich aus und wollte Samu zeigen, dass er für mich nicht wichtig war. Das hatte zwar funktioniert, war aber unfassbar egoistisch von mir gewesen.
Dann schlief ich mit Jan. Aus dieser Schwimmbad-Laune heraus.
Und am nächsten Morgen bereute ich diese Entscheidung nicht, weil es sich gut und richtig angefühlt hatte.
Es fühlte sich schön an, wenn er mich berührte, mir durch die Haare strich.
Vielleicht war seine Statusänderung von „Single" zu „verliebt" etwas voreilig gewesen. Aber der Rest dazwischen stimmte. Denn wenn man seine Homophobie außen vor ließ, war er charakterlich und auch optisch ein Traummann, den ich nur ungern teilen oder aufgeben wollen würde.
Und jetzt wusste ich, was mich dazu veranlasst hatte, ihn anzurufen:
Ich war –seit Jahren- wieder verliebt.
Vielleicht waren die Umstände nicht die besten gewesen, aber ich konnte und wollte es nicht abstreiten, dass ich viel mehr als Freundschaft für ihn empfand. Unsere Geschenkübergabe an Weihnachten war leicht unterkühlt und freundschaftlich gewesen, aber ich freute mich wirklich wahnsinnig über die zwei Flugtickets nach Spanien. Der Jubel über den Schokoladenfußball war meiner Meinung nach gespielt. Umso ehrlicher wirkte Jans Begeisterung für den Gutschein.
Mein Bruder stand über allem. Würde er das Land verlassen, würde ich mit ihm gehen.
Würde er springen, würde ich keine Sekunde lang zögern und hinterher springen.
Und trotzdem fiel es mir unglaublich schwer, nicht an Jan zu denken, während ich gedankenverloren über den Bürgersteig schlenderte.


Ich schaltete das Licht an, als ich die Treppe hinunter ging.
Ich hatte gefeiert.
Zu lange.
Zu exzessiv.
In jeder einzelnen Zelle meines Körpers bemerkte ich den noch nicht abgebauten Alkohol.
Auf was für Ideen betrunkene Menschen an Silvester kamen.
Noch nie in meinem Leben hatte ich mein Bier über einen Hut auf meinem Kopf getrunken.
Mein bester Freund Riku blinzelte mich von der Couch aus böse an, zog sich die dünne Wolldecke über den Kopf und murmelte etwas in seinen nicht-vorhandenen Bart. Ich ignorierte seinen Protest, schlurfte müde in die Küche um den Kaffeevollautomaten einzuschalten. Ein Blick auf die Uhr über der Küchenzeile verriet mir, dass es für einen Espresso eigentlich schon wieder zu spät war, wenn ich nicht vorhatte, die Nacht erneut zum Tag zu machen.
Ich konnte mich an die vergangenen 24 Stunden beim besten Willen nicht erinnern. Je mehr ich es versuchte, desto stärker schien mein Kopf sich dagegen zu wehren. Glücklicherweise war ich alleine aufgewacht. Eine Frau konnte ich jetzt nicht gebrauchen. Eine redende noch weniger. Außerdem hätte Riku dann wieder den Moralapostel heraushängen lassen. Ich solle erwachsen werden und mich endlich fest binden. Nach jedem dieser Gespräche rollte ich die Augen. Seitdem er sich regelmäßig mit ein und derselben Frau traf, war er wie ausgewechselt. Zugegeben: Ich hatte in den letzten Jahren einen hohen Verschleiß an Frauen. Aber ich war fest davon überzeugt, dass es genug Samu für alle gab. Mir war „die Eine" –wie Riku es bezeichnen würde- nach der Trennung von Vivianne und dem Wochenende mit Emma einfach noch nicht über den Weg gelaufen. Sollte es irgendwann dazu kommen, wäre die Situation eine andere. Aber zum damaligen Zeitpunkt hatte ich niemanden in Aussicht, bei dem ich mich sowohl intellektuell als auch körperlich so geborgen fühlte, für den ich meinen Lebensstil radikal ändern wollte.
Nacheinander stellte ich zwei weiße Espressotassen unter den Automaten, kippte meinen sofort hinunter und stellte Riku einen auf den Glastisch vor sich. Seine Hand tastete sich suchend über die Tischplatte.
„Valo", brummte er undeutlich und griff an den kleinen Henkel der Tasse.
Ich saß auf dem Sessel neben ihm.
„Valo", wiederholte er jetzt böse und hatte seinen Kopf immer noch nicht unter der Decke hervor geholt.
Kopfschüttelnd stand ich auf, schaltete die Deckenlampe aus und eine der Stehlampen im Flur ein.
„Kiitos", Riku warf die Decke zurück, setzte sich auf und trank den Espresso in einem Zug aus, „Kuinka voit?"
Wie sollte es mir gehen?
Ich hatte getrunken und war verkatert.


Müde legte ich das Buch zur Seite und rieb mir verschlafen die Augen. Das Schippen des Schnees hätte ich mir sparen können, wie es mir bei einem erneuten Blick aus dem Fenster auffiel. Es hatte erneut geschneit. Immerhin war es für ein paar Stunden allen Anwohnern möglich gewesen, die Straße zu passieren, ohne auszurutschen. Ich nahm den fünften Teil der Harry Potter-Reihe aus einem Fach des TV-Regals und blickte vor dem Ausschalten des Lichts in dem Wohn- und Essbereich umher.
Es wurde Zeit, erneut zu streichen.
Mir gefiel dieses sterile Weiß schon damals nicht, aber Leni war spontan nichts anderes eingefallen. Die Handabdrücke am Türrahmen hatte sie mehrere Male überstrichen, damit ich sie auch wirklich nicht mehr sehen konnte. Ich tippelte kurz in die Küche und notierte „Maler anrufen" auf einem Post-it, pinnte ihn an die Kühlschranktür und ging in das Schlafzimmer. Im Bett kuschelte ich mich in die Decke, stellte den Wecker meines Smartphone und sah, dass Jan mir mehrere Nachrichten geschrieben hatte, weil ich mich den ganzen Tag über nicht gemeldet hatte. Auf seine Frage, wie es mir gehen würde und wann wir reden könnten antwortete ich: „Mir fällt es unendlich schwer, deine Meinung Daniel gegenüber zu akzeptieren. Ich weiß nicht, ob ich mit jemandem zusammen sein kann, der Schwule so sehr hasst."
„Du trennst dich?", schrieb Jan sofort.
Ich war innerlich zerrissen.
Daniel war mein Bruder. Aber Jan war der Mann, in den ich mich in den letzten Monaten verliebt hatte.
„Ich bin verliebt in dich", tippte ich schnell, „eigentlich will ich mich nicht trennen. Von niemandem."
„Dann tu es nicht", antwortete er, „es war falsch, dich vor die Wahl zu stellen. Ich zwinge dich nicht, versprochen. Ich hab Frühdienst, schlaf gut. Lass uns die Tage reden. Ich liebe dich, Süße (auch, wenn du das jetzt nicht hören willst)."
Ich seufzte.
„Ich dich auch, bis morgen!", schrieb ich und drehte mich mit dem Gesicht zur Wand.
Noch gestern hatte mich Samus Gesang eingeholt und mir Tränen in die Augen getrieben.
Und heute war er wieder vergessen.


Just friends?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt