Mit nur einem Auge und nur einem Bein

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„Osmo hat mir gratuliert", rief ich Samu zu, der noch unter der Dusche stand, um auch den letzten Zentimeter seines Gesichts von Theaterblut und Schminke zu befreien.
Nachdem wir kurze 20 Minuten durch die Innenstadt zum Hotel am Stadtpark gefahren waren, war ich nach dem Öffnen der Zimmertür sofort ins Badezimmer gestürmt. Nachdem ich das Wasser angestellt und die Pröbchen vom Waschbecken genommen hatte, duschte ich ausgiebig, schrubbte mir die Farbe aus dem Gesicht und verhalf meiner vorher toupierten Mähne mit etwas Conditioner zu gesundem Glanz. Keine zehn Minuten später war ich in eines der hoteleigenen Duschhandtücher gewickelt und verließ das Badezimmer. Samu hatte in Boxershorts am weitgeöffneten Fenster gestanden und gerade seine Zigarette ausgedrückt. Das Licht war gedämmt, die Kissen aufgeschüttelt und die Bettdecke zurückgeschlagen worden. Ich hatte die feuchten Haare über die Schulter gelegt, war auf ihn zugegangen und hatte mich fest an ihn gedrückt. Er ließ seine Hände über meinen Rücken fliegen, bevor er sich entschuldigte, auch eine schnelle Dusche nehmen zu wollen.
„Er ist eine gute Typ", sagte Samu laut und drehte das Wasser ab.
Ich zupfte gedankenverloren an meiner Yogahose herum und lehnte mit angewinkelten Beinen an dem Kopfteil des Bettes.
Ich war so unglaublich froh, dass dieser ganze Spuk ein Ende hatte.
Aber trotzdem hemmte mich irgendwas.
Irgendwas, was mich davon abgehalten hatte, Samu das Kostüm vom Leib zu reißen, als er die Tür des Zimmers hinter sich geschlossen hatte. Stattdessen verschanzte ich mich wie eine Gestörte im Badezimmer, duschte und umarmte ihn wie einen Freund aus dem Kindergarten.
Kein Kuss.
Nichts.
„Ganz große Nummer, Emma. Ganz toll gemacht", ich sah mich als Miniversion auf meiner Schulter sitzen und gähnend klatschen, „du hättest wenigstens das Handtuch fallen lassen können."
Stimmt. Hätte ich. Tat ich aber nicht.
Weil ich gestört war und mir offenbar einbildete, dass es jetzt anders wäre.
War es aber nicht.
Kein Stück.
Meine missratene Beziehung war nie ein Grund gewesen, Samu auch nur eine Sekunde lang nicht anziehend zu finden.
Das hatte nie funktioniert.
Jan zählte nicht mehr.
Das hatte er nie.
Warum also jetzt damit beschäftigen?
Ich hörte die Badezimmertür klacken und korrigierte meine Kartoffelsackhaltung.
Samu rubbelte sich noch mit dem weißen Handtuch durch die Haare und grinste mich an, bevor er das Handtuch über die Lehne eines Stuhls legte und zu mir ins Bett kam. Vollkommen erschöpft ließ er sich in die Federn fallen und drückte den Hinterkopf in die weichen Kissen.
Ich starrte auf seinen Bauch und die wenigen Wassertropfen, die er nicht abgetrocknet hatte und ließ den Blick weiter schweifen: Über seine Brust und die Arme, die er hinter seinem Kopf verschränkt hatte.
Mein Gott, die Arme.
„Hast du?", Samu schnipste vor meiner Nase.
„Was hab ich?"
„Ob du geguckt hast wegen Teleshopping?"
„Wann?"
„Emmi", lachte er, „was ist wrong?"
„Tschuldige", grinste ich, „ich war woanders."
„Of course."
„Was soll ich gucken?", fragte ich verwirrt.
„Hell", wieder lachte er, „Teleshopping. Es gibt hier?"
„Weiß ich nicht", schüttelte ich den Kopf, stemmte mich auf die Knie und beugte mich über Samu, um die Fernbedienung von der Nachtkonsole zu fischen.
„Was hast du gedacht few seconds ago?", wollte er wissen und strich sanft über meinen Oberschenkel.
Kleine Blitze schlugen an den Stellen ein, über die Samu seine Finger fliegen ließ.
„Gar nichts", meine Mundwinkel zuckten unkontrolliert, als ich mich wieder neben ihn hockte und lächelte, „nichts hab ich gedacht."
„Du hättest bleiben können in diese position."
Samus Hand lag jetzt auf meinem Po.
Und er bewegte seinen Daumen auf und ab.
„Natürlich without die shirt", ergänzte er und ließ die Fingerspitzen unter meinem Shirt langsam über die Wirbelsäule hoch und runter gleiten.
Ich legte meine Hand an seine Wange und stupste mit meiner Nase an seine, bevor ich ihm einen Kuss auf die Lippe hauchte und mich wieder aufrichtete, um nach Luft zu schnappen.
Sein Duft, gepaart mit seiner Art, seinem Körper.
Mit allem.
Einfach er.
Nur er.
Brachte mich völlig aus dem Konzept.
„Das war nicht alles, no?", erkundigte er sich mit einem zugekniffenen Auge.
„No", schüttelte ich schmunzelnd den Kopf, strich mir die Haare nach hinten und beugte mich wieder über ihn.
Noch bevor ich ihn küssen konnte, zog Samu mich auf seinen Schoß, griff an meinen Nacken und schob seine Zunge zwischen meine Lippen. Meine Hände fuhren durch seine Haare, über seine Wangen den Hals hinab, über die Oberarme und Brust, seine Seiten entlang. Als ich mich richtig positioniert hatte, streifte Samu mir das Shirt über den Kopf, warf meinen BH zur Seite und legte die Hände an meinen Po, während ich mich immer wieder fest gegen seinen Schritt presste. Er drückte mich fest an seinen Körper und rollte uns zur Seite, so dass ich unter ihm lag. Samu kniete zwischen meinen Beinen, grinste mir schelmisch entgegen, küsste daraufhin meinen Hals, leckte sich über meinen nackten Oberkörper und senkte seinen Mund auf meine Brustwarze, während er die andere mit den Fingern umspielte. Ich stöhnte auf, hob das Becken an und strampelte mich irgendwie aus Yogapants und Slip. Als Samu seine Zunge weiter auf Wanderschaft schickte und sich langsam über meinen Bauch in Richtung meiner Mitte küsste, drückte ich mich ihm ächzend entgegen. Er grinste nur, saugte die Haut an meinen Schenkel zwischen seinen Lippen ein und streichelte mir über den Bauch wieder hoch zu meinen Brüsten.
Ich stemmte mich auf die Unterarme und fixierte ihn mit meinem Blick, soweit es mir möglich war. Samu lächelte mich schmutzig an, vergrub seinen Kopf anschließend wieder in meinem Schoß und verteilte Küsse auf der Innenseite meines Oberschenkels. Quälend langsam strichen seine Finger über meine harten Brustwarzen, während die andere Hand unaufhörlich über mein Bein und die Seite fuhr. Ein Blitz durchzog meinen Körper, als er seine Finger zaghaft über meine Mitte gleiten ließ und dann wieder mein Bein hinunterstreichelte.
So sehr er mir wehgetan, mich in Stücke gerissen und alleine, metaphorisch blutend, vor drei Jahren auf dem Boden der Tatsachen zurückgelassen hatte, so sehr wollte ich genau das hier.
Mit niemand anderem.
Nur bei ihm konnte ich so sein, wie ich war.
Mit nur einem Augen und nur einem Bein.
Meinen Macken.
Ich musste mich nicht verstellen, um ihm zu gefallen.
Während der ganzen sechs Wochen nach unserem Aufenthalt in Düsseldorf hatte er mir immer wieder gezeigt, dass ich, so, wie ich war, genau richtig war.
Vielleicht reichte das nicht für einen Jan Temme.
Aber es reichte für einen Samu Haber.
Und das reichte mir.
Vollkommen und in jeglicher Hinsicht.
„Everything ok?", fragte Samu nah an meinem Gesicht und küsste meine Halsbeuge.
„Bestens", flüsterte ich, ließ mich wieder zurück auf die Matratze sinken, legte die Hände an seinen Rücken und streichelte ihm über die Wirbelsäule.
„Good", schmatzte er und saugte meine Unterlippe ein, „I thought du bist weit weg."
„Ich bin hier", ich erwiderte den Kuss und zwirbelte seine Haare am Nacken zwischen meinen Fingern ein, „und ich will nirgendwo anders sein."
„Sounds good", nuschelte Samu, intensivierte den Kuss, streichelte meine Seiten entlang und ließ das Gummi seiner Boxershorts leise schnacken, als er sie auszog.
Meine Hände waren wie von selbst über seine Brust, den Bauch, seinen Happy trail zu seinem Becken gewandert und strichen zärtlich darüber.
Samu umklammerte kopfschüttelnd meine Handgelenke, legte sie hinter den Kopf und presste seinen Mund gierig auf meinen, als er sich in mir versenkte.


Ich spürte feuchte Haarsträhnen in meinem Gesicht und Lippen auf meiner Stirn. Verschlafen reckte ich mich in die Richtung, in der ich Samu vermutet, bekam einen sanften Kuss, hörte etwas von „breakfast" und döste sofort wieder ein.
Das nächste Mal wurde ich wach, weil jemand unaufhörlich gegen die Tür klopfte.
„Samu", flüsterte ich und drehte mich zur Seite, „Tür."
Wieder klopfte es.
Dieses Mal lauter.
„Samu", sagte ich wieder und tastete die Betthälfte neben mir ab.
Kalt.
Leer.
Wieder Geklopfe.
Ich schreckte hoch, blinzelte einige Male durch das Zimmer, wickelte mich anschließend in eines der Laken und taumelte müde an dem angrenzenden Wohnzimmer vorbei zur Tür. Als ich sie einen Spalt weit öffnete, stand dort ein Mitarbeiter des Hotels in einer grünen Weste. Vor ihm ein silberner Servierwagen, der für größere und teurere Hotels üblich war.
„Frau Holmberg?"
Ich nickte und starrte auf die Tabletts.
Zwei Croissants, zwei dunkle Brötchen, ein Teller mit Tomate und Mozzarella, verschiedene Sorten Aufschnitt, Käse, Obst und Rührei.
„Danke", lächelte ich, signalisierte dem Angestellten, dass ich den Wagen alleine reinschieben könnte und schloss die Tür hinter mir.
„Frühstück ist fertig", rief ich.
Keine Reaktion.
„Samu?", ich schob den Servierwagen in das Wohnzimmer, „komm schon."
Als er immer noch auf sich warten ließ, stelzte ich auf Zehenspitzen zurück in das Schlafzimmer und sah mich um.
Seine Tasche war weg.
Ebenso wie seine Schuhe.
Nachdenklich ließ ich meinen Blick über die Einrichtung schweifen und konnte mich letztendlich daran erinnern, dass Samu etwas von Frühstück gesagt, als er mich geküsst hatte.
Musste er weg?
Ich tippte mir nachdenklich an die Lippe.
Hatte er das erwähnt?
Irgendwann?
Ich musste damit aufhören, mein Gehirn auf Wackelpudding mit Vanillesauce umzustellen, wenn er in meiner Nähe war.
Ich drehte den Schlittschuh auf meinem Dekolleté und nahm mein Handy vom Nachttisch. Mit weit aufgerissenen Augen erschrak ich.
Die Uhrzeit.
Die 14 Anrufe in Abwesenheit von Leni.
Eine SMS.
Eine SMS, die vor zehn Minuten angekommen war.
„Lady, die breakfast kommt in eine paar minutes. Have a nice day and try the eggs for me :-)"
Ich schmunzelte, legte das Smartphone zurück auf die Nachtkonsole, zog das Shirt und die Yogahose des letzten Abends über und ließ mich vor dem Servierwagen auf den weichen Polstern der Couch im Wohnzimmer nieder.


Ich hatte in aller Ruhe gefrühstückt, ferngesehen, war duschen gegangen, hatte mich in Samus Hotelzimmer eingecremt und ihm geschrieben, als ich gegangen war, bevor ich am frühen Abend vollkommen tiefenentspannt und erholt die Eingangstür meiner kleinen Souterrainwohnung aufschloss. Zu meiner Verwunderung sahen meine vier Wände aus wie vor der Party. Sauber, aufgeräumt, ordentlich. Vielleicht sogar ein bisschen besser. Es roch nach Putzmittel und Zitrone; auf der Kommode im Flur lag ein Zettel:
„Du wirst vermutlich soooo kaputt sein (wovon nur? ;-)), dass du es nicht schaffst, vor dem Wochenende aufzuräumen. Die helfenden Elfen haben das für dich erledigt :-) Dafür hast du Pfand eingebüßt; die Geschenke sind aber alle noch da. Schlafzimmer :-) - JD"
Ich schmunzelte, murmelte ein „danke, ihr Spinner" vor mich hin, knüllte den Zettel und warf ihn in der blitzblanken Küche in den Mülleimer.
Nachdem ich meine Tasche ausgepackt hatte, kochte ich Wasser auf und kuschelte mich mit einem Buch auf die Couch.
Leni hatte vier weitere Male versucht, mich anzurufen. Wieder hatte ich sie ignoriert. Ich wusste, was sie von mir wollte – und genau deswegen hatte ich keine Lust auf eine Unterhaltung mit ihr. Aber die Vorwürfe, die sie mir an den Kopf werfen wollte, wollte ich mir bei allem Verständnis für ihre Hochzeit nicht anhören. Gerne konnte sie mir sagen, wie doof sie das finden würde. Aber nicht heute. Nicht, nach dieser Nacht, die mich immer noch erröten ließ, wenn ich daran zurückdachte.
Als ich das Lesezeichen aus „Lauter reizende alte Damen" von Agathe Christie zog und das Buch aufschlug, klingelte es mehrmals hintereinander an der Tür.
„Du lebst noch?", Leni stürmte wie von der Tarantel gestochen an mir vorbei und sah sich orientierungslos drehend im Flur um.
„Guten Abend", grinste ich und verbeugte mich an der Tür, „komm doch rein."
„Haha", drehte sie sich zu mir um und streifte sich den Mantel von den Schultern, „warum gehst du nicht an dein Handy? Ich dachte, es sei was passiert."
„Keine Lust gehabt", ich zuckte mit den Schultern.
„Achja?", ihre Augenbrauen zogen sich böse zusammen.
„Ja. Ich hab keine Lust gehabt."
„Warum nicht? Wir sehen uns eh schon so selten."
„Was nicht meine Schuld ist", ergänzte ich und warf die Tür ins Schloss.
„Tut mir leid", Leni schob entschuldigend die Unterlippe nach vorne, „aber ich wollte mit dir reden. Dringend."
„Wirklich? Dabei hast du doch nur 18 Mal angerufen."
Ich zickte etwas.
Weil sie sich gestern völlig daneben benommen hatte. Total betrunken musste sie sich von mir und ihrem Verlobten helfen lassen, damit sie heute wieder bei mir auf der Matte stehen konnte.
„19", berichtigte sie, „ich habs vor fünf Minuten nochmal versucht. Wollen wir uns vielleicht setzen?"
Ich zeigte in das Wohnzimmer, verschwand in der Küche und goss zwei Tassen Kamillentee zur Beruhigung auf, denn so ganz traute ich ihrer lieben und unschuldigen Art nicht. Vor allem nicht, weil sie wie ein Elefant in die Wohnung gestürmt war. Außerdem war ich –berechtigterweise- nicht ganz gut auf sie zu sprechen.
Marlen hatte ihre Schuhe von den Füßen gekickt und saß mit angezogenen Beinen auf dem Sofa. Ich stellte eine der Tassen vor sie und setzte mich ihr zugewandt mit einem angewinkelten Bein auf die Eckcouch.
„Was gibt es denn so wichtiges?", ich pustete in den Tee, den ich mit beiden Händen umklammerte.
„Hast du deine Geschenke schon ausgepackt?"
„Nein, noch nicht. Sind alle noch im Schlafzimmer."
„Aso", Leni sah etwas verlegen zur Seite.
„Was wolltest du besprechen?", grinste ich nett.
„Ich hab gestern etwas zu viel getrunken. Aber davor und danach war ich doch wieder relativ zugänglich", fing sie an, „und ich weiß sehr wohl noch, dass Samu auch hier war."
„Und?"
„Jan hat Marius heute Nacht noch angerufen."
„Und?"
Ich weiß, was du zu Jan gesagt hast."
„Und?"
Sie starrte mich ungläubig an.
„Das ist alles?"
„Was?"
„Und?", machte meine beste Freundin mich nach, „das ist alles, was du dazu sagst?"
„Ja, wieso?"
Sie schüttelte den Kopf und sah zur Seite.
„Du warst nicht betrunken?"
„Nein? Natürlich nicht."
„Ich dachte, du wärst betrunken gewesen."
„Warum sollte ich?"
„Weil du Geburtstag hattest und Jan gesagt hast, dass du das alles nicht mehr willst."
„Und das ist verwirrend?"
„Ja", Marlen griff nach ihrer Tasse, „weil du sagst, dass du nicht betrunken warst."
„Was erzählst du da?"
Sie stöhnte.
„Ich dachte, du seist betrunken und hättest deswegen zu Jan gesagt, dass du willst, dass er geht. Aber du hast mir jetzt gerade gesagt, dass du nicht betrunken warst."
„Und was genau wolltest du jetzt besprechen?", ich dippte den Teebeutel in das Wasser, „ich kann deinen Gedanken gerade nicht folgen."
Leni wippte mit den Zehen und schwieg einen Moment.
„Du meinst das ernst, oder?", fragte sie sauer und sah mich an, „du willst diese Beziehung zu Jan nicht."
„Ja. Hab ich ihm doch gesagt. Ich verstehe ni..."
„Emma. Ich heirate im Dezember."
„Und?"
„Ist das das einzige, was du zu sagen hast? Das macht mich wahnsinnig!", fuhr sie mich an, „die ganze Zeit sagst du nichts anderes!"
„Ich liebe ihn nicht", sagte ich trocken.
„Was hat er dir denn getan? Ihr seid fast ein Jahr zusammen. Wirf das doch nicht weg."
„Warst du dabei, als er mich bloßgestellt hat?", ich runzelte die Stirn, „warst du, nicht wahr? Mehr als ein Mal."
„Ach Emma", sie klopfte mir auf die Schulter, „das war doch nur Spaß. Deswegen trennt man sich doch nicht. Red nochmal mit ihm. Er wird das verstehen. Es gab Alkohol und du warst vielleicht auch aufgeregt, weil das der erste Auftritt von euch als Paar vor anderen Menschen war. Da kann man schon mal durchdrehen", sie lachte hell und winkte ab, „was glaubst du, wie aufgeregt ich war, als ich Marius das erste Mal mit zu euch genommen hab. Abgesehen von meinen Eltern."
„Nein", ich stellte meine Tasse zurück auf den Tisch.
„Was nein?"
„Ich will nicht mit ihm reden. Nicht heute, nicht morgen, nicht übermorgen."
„Aber ihr müsst doch darüber reden."
„Ich will keine Beziehung mit ihm, verstehst du das nicht?"
„Hat Samu was damit zu tun?"
„Samu mag mich so, wie ich bin. Im Gegensatz zu Jan."
„Das stimmt so..."
„Doch, Leni. Das stimmt genau so wie ich es sage!", brüllte ich, „Jan hat mich immer getadelt, als wäre ich ein kleines Kind. Für meinen Nagellack, meinen Schokoladenkonsum, meine Jogginghose. Ich musste mich für ihn verstellen und das will ich nicht!"
„Aber wenn ihr reden würdet, Emma? Du stellst di..."
„Ich will nicht mit ihm reden! Ich liebe ihn nicht und ich will nicht mit ihm zusammen sein, damit du deine perfekte Hochzeit bekommst!"
„Dann komm halt nicht!", sie knallte die Tasse auf den Glastisch, so dass der Tee heraus schwappte, „ich lass mir von dir nicht den besten Tag meines Lebens kaputt machen, nur weil du nicht in der Lage bist, mit deinem Freund zu reden!"
„Schön!", schrie ich.
„Bekomm das hin, Emma. Ehrlich. Das geht so nicht!"
„Was geht nicht?"
Wir lieferten uns einen Anschreibwettbewerb. Weder Leni noch ich dachte eine Sekunde daran, die Stimme zu senken und den anderen vernünftig zu Wort kommen zu lassen.
„Ich hab dir gestern schon gesagt, dass der Kontakt zu Samu keine gute Idee ist und dass du ihn meiden solltest. Und bäm, einen Tag später sagt Marius mir, dass du Jan gesagt hast, dass er gehen soll. Und Samu war dabei. Tolle Leistung, Emma", Leni klatschte in die Hände, „großartig!"
„Und weil du das sagst, ist das so?"
„Ich denke an die Allgemeinheit."
„Falsch", ich schüttelte den Kopf, „du denkst an dich. Nur an dich."
„Was?"
„Es geht nur um die Hochzeit! Weil du einen Plan hast, wie das alles aussehen soll!"
„Natürlich hab ich den! Jede Frau hat den! Ich will meine beste Freundin mit ihrem Freund da sehen; ist das zu viel verlangt?"
„Der Freund, der keiner ist!"
„Ach Emma!", Marlen schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf.
„Du willst mich da mit Jan sehen! Um jeden Preis! Du scheißt drauf, ob ich mich dabei gut fühle!"
„Es ist mein verschissener Tag, oder? Oder ist es etwa deiner? Heiratest du? Nein, tust du nicht! Ich heirate! Und es ist mein Tag! Und wenn ich das an diesem Tag so will, dann wird das so gemacht! Ende."
Jetzt zeigte Marlen ihr wahres Gesicht.
Ihr Wohlergehen stand im Vordergrund.
Und wenn die Hochzeit nur für das Foto perfekt wäre.
Den Preis würde sie zahlen.
Ganz allein ihr Wohlergehen, ihr Glück, ihr Leben war wichtig.
Ohne Rücksicht auf Verluste.
„Danke", ich presste die Lippen aufeinander, stand auf, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ging kleine Runde durch das Wohnzimmer, „jetzt weiß ich ja, wie viel dir daran liegt."
„Meine Hochzeit", Marlen tippte sich wutentbrannt auf die Brust, „es ist meine Hochzeit! Merkst du, wie egoistisch du gerade bist?"
„Bitte?", ich stierte sie an, „was bin ich?"
„Egoistisch", wiederholte sie in der gleichen Lautstärke, „aber das warst du ja immer schon. Hauptsache, Fräulein Holmberg bekommt das fetteste Stück des Bratens ab."
„Du verarscht mich, oder?", ich senkte die Stimme und ließ mich mit einigem Abstand wieder auf das Sofa fallen, „du sagst nicht, dass ich egoistisch sei?"
„Doch", Leni nickte, „du bist nur auf deinen Vorteil aus. Aber nicht auf meiner Hochzeit, Emma. Vergiss es. Du kommst mit Jan und fertig."
„Ich werde nicht mit Jan kommen, Marlen."
„Dann kommst du nicht", schlussfolgerte sie nochmal, „sei meine Trauzeugin mit Jan oder verbring den Tag auf deiner Couch."
Ich nahm die Teetasse in die Hand, stand auf, ging in den Flur und öffnete die Tür. Eine kalte Novemberbrise peitschte mir entgegen.
„Du weißt, wo die Tür ist", sagte ich ins Wohnzimmer hinein, knallte meine Tasse auf die Anrichte und verschwand im Badezimmer, um mich für das Bett umzuziehen.
Keine 20 Sekunden später hörte ich, wie Leni die Tür geräuschvoll in das Schloss knallte und mein Handy laut klingelte. Ich schlurfte fluchend ins Schlafzimmer, stöpselte das Smartphone von der Ladestation ab und freute mich umso mehr, als ich „Samantha" anstatt „Leni" lesen durfte.
„Lady, ich bin at home now", seine tiefe Stimme jagte mir augenblicklich einen Schauer über den Rücken, „it was a fucking long day. How was your breakfast und wie geht dir?"
„Wie schön, dass du anrufst", lächelte ich, ließ mich rücklings auf das Bett fallen und legte erst wieder auf, als mein Wecker mir signalisierte, dass die Zeit gekommen war, endlich aufzustehen.

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