Kapitel 16

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Eine ganze Weile stehen wir so im Bad, es wird das letzte Mal sein das wir uns umarmen, das letzte Mal das wir uns sehen, die letzten Momente in Freiheit. Wieder klopft es an der Tür. Justus lässt mich los um sie aufzuschließen und schaut seine Eltern wütend an. Dann wieder traurig zu mir und zieht mich an der Hand mit in seinem Zimmer, wo er die Tür wieder abschließt und wir uns auf sein Bett legen.

„Justus, Tess morgen früh kommt jemand vorbei um euch abzuholen, glaub mir euch wird es da sicherlich gefallen. Die Frau klang wirklich nett und hat gesagt, dass ihr euch da bestimmt gut einfügen werdet. Sie wird sich auch mit der Polizei auseinandersetzten und dafür sorgen das du deine Eltern nie wieder sehen musst. Sie waren wirklich erleichtert, dass wir uns gemeldet haben, damit sie euch helfen können. Verstehst du Kleines?“ Natürlich versteh ich alles, ich bin mit Lügen groß geworden.

„Mum sei einfach still und geh‘ jetzt.“ Ich weiß wie weh Nicole das tun muss, wenn ihr eigener Sohn so mit ihr spricht und sie fort schickt, doch ich bin froh darum. Ich kann die ganzen Lügen nicht mehr ertragen. Ich lege meinen Kopf auf Justus Brust. Das letzte mal. Wir sagen kein Wort mehr und irgendwann höre ich nichts mehr außer dem ruhigen Atem von ihm. Ich kann jetzt nicht schlafen. Schlafen kann ich immer noch, doch sobald ich einmal in diesem Loch festsitze, komme ich nie wieder da raus. Vorsichtig löse ich Justus Arm von mir und krieche leise aus dem Bett zu seinem Schreibtisch, setz mich auf den weißen modernen Stuhl, suche mir ein Blatt und einen Stift und fang an zu schreiben:

Ich hoffe ihr könnt mir eines Tages verzeihen, dass ich weg gelaufen bin und ich Lucy alleine gelassen habe. Aber ich kann nicht in dieses Heim gehen, nein lieber wurde ich sterben. Es mag ja sein das Lucy dort besser aufgehoben ist als bei mir. Ich würde sie nicht beschützen können, wenn Papa anfängt auch sie zu schlagen. Aber ich bin es in diesem Loch nicht. Sag Lucy das ich sie liebe und sie niemals vergessen werde. Wahrscheinlich wird sie mir niemals verzeihen, doch möchte ihr sagen, dass ich sie über alles liebe und ihr noch ein schönes Leben wünsche in einem schönen Haus mit einem großen Garten, wie sie sich es immer gewünscht hat. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder, aber bitte sucht nicht nach mir, ich finde schon irgendeinen Ort, wo ich leben kann und wenn nicht dann sterbe ich wenigstens nicht in einem Gefängnis. Ich werde euch alle vermissen, ihr wart wie eine Familie, die ich nie hatte.

Alles liebe Tess.

Wieder hatte ich Tränen in den Augen, die mir über meine Wangen liefen und das Papier an den Stellen einweichte, wo sie auftraten. Leise, um Justus nicht zu wecken, öffne ich die Tür und schaue noch ein letztes Mal zu meinem schlafenden besten Freund. Ich vermisse ihn jetzt schon. Bevor noch weitere Tränen aus mir hinausquellen können, verlasse ich den Raum und schleiche durch das stille Haus in die kalte Nacht hinein. Ohne genauen Plan wo ich den Rest meines Lebens verbringen soll, schleiche ich durch die Finsternis bis ich irgendwann im Park lande. Ich stolpre den steinigen Weg entlang und kicke einen größeren Stein vor meinen Füßen weg. Nach einer gefühlten Ewigkeit komme ich an meinem Lieblingsplatz an. Ein großer breiter alter Baum, der nur wenige Meter von dem Badesee entfernt steht. Mühsam klettre ich auf einen der unteren Äste und beobachte das stille glitzernde Wasser im Mondlicht. Die Nacht ist so ruhig, keine Stimmen, keine Tiere, nicht mal der Wind scheint in dieser eisigen Nacht draußen zu sein. Ich ziehe meine Beine an meinen Körper und schlinge frierend die Arme darum, um mich irgendwie warm zu halten. Angestrengt überlege ich wie ich die nächsten Jahre überleben soll, ohne Job, nicht mal mit Schulabschluss, bis mir vor Müdigkeit die Augen zufallen.

Vogelgezwitscher weckt mich und ein eiskalter Wind lässt die Blätter um mich herum rascheln. Die dünnen Zweige taumeln und auch das Wasser des Sees ist jetzt unruhig. Es ist ein kühler Frühlingsmorgen, sogar der Boden ist noch mit weis glitzerndem Staub bedeckt. Vorsichtig springe ich von meinem Schlafplatz und schiebe meine Füße langsam Schritt für Schritt durch den Park, bis mir einfällt, dass Justus wahrscheinlich bald den Brief finden wird, wenn er ihn nicht schon gefunden hat, da er ein Frühaufsteher ist. Sofort beschleunige ich meine Schritte, ich muss weg hier. Zum Glück ist mein zu Hause nicht gerade weit weg, sodass ich nach zehn Minuten Fußmarsch vor dem grauen Häuserblock stehe, ohne auch nur eine Menschenseele gesehen zu haben, dafür ist es viel zu früh. Nachdem ich endlich in unserer alten Wohnung angekommen bin, atme ich erleichtert aus. Keiner ist hier. Trotzdem beeile ich mich. Hier wird die Polizei als erstes nach mir suchen. In meinem verlassenen Zimmer angekommen, packe ich meine Reisetasche mit dem wichtigsten Sachen, Klamotten, Handtücher, Waschzeug, eine dicke warme Decke und das Geld, was ich hier für Notfälle habe, das was ich jahrelang gespart hatte, für ein Haus mit Garten.

Zügig verlasse ich meine alte Wohngegend und renne zum Bahnhof, wo ich mir in Rekordzeit eine Fahrkarte kaufe und nun an den Bahngleisen auf meinen Zug warte. Zum Glück lässt er mich nicht lange im kalten stehen, da nicht viele Passagiere um diese Uhrzeit nach Köln fahren, sitze ich dort fast alleine. Die paar Fahrgäste, ein älteres Ehepaar und zwei Freundinnen, ließen mich auch die ganze Fahrt über in Ruhe.

Sofort bemerkte ich beim Aussteigen, das typische Großstadtklima. Stickige verpestete Luft, viel Verkehr und noch mehr Menschen, die sich gegenseitig aus dem Weg schubsten und genauso machte ich es auch, bis ich es irgendwann geschafft hatte und mich erschöpft auf einer Bank fallen lass.

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