XI

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Mit geschlossenen Augen und flachem Atem stand ich, an die raue Backsteinwand in meinem Rücken gepresst, dran und versuchte nicht vollkommen den Verstand zu verlieren. Gerade erst war ich haarscharf vor meinem absoluten Untergang davongekommen. Nur der Dunkelheit der Nacht hatte ich es zu verdanken, dass die Augen der Wachen nicht an mir hängen geblieben waren. Als ich mich nach einigen weiteren Minuten vergewissert hatte, dass die Luft wirklich frei war, setzte ich meinen Weg fort. Nur noch einige Schritte trennten mich von meinem Ziel.

Ich legte mich kurz davor auf das weiche Gras unter meinem Bauch und kroch leise und vorsichtig an die Gitterstäbe heran. Ich konnte es nicht verhindern, dass mein Herz unfassbar laut klopfte - so laut, dass ich Angst bekam, nicht nur ich könnte es hören.

In der Zelle war es dunkel, kein Wunder, war es doch Nacht. Doch auch in dem Bereich, den der Mondschein erleuchtete, war niemand zu sehen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als mich auf irgendeine Weise bemerkbar zu machen. Mit einer schnellen Tastbewegung suchte ich nach einem kleinen Stein in meiner Nähe. Schneller, als ich gedacht hatte wurde ich fündig und umschloss ihn fest in meiner Hand.

Ich wusste, dass es riskant war. Die Wachen könnten jeden Moment etwas ahnen und mich erwischen. Jeder Zeit könnte die Wache am Eingang des Kerkers eine Runde laufen und die Zellen kontrollieren. Es war idiotisch. Und doch fühlte ich mich, als würde ich das einzig richtige tun. Denn eine andere Möglichkeit sah ich nicht für mich. Ich sah nur die Möglichkeit zu versuchen diesen Mann aus der nahenden Katastrophe zu befreien.

Mit diesem letzten Gedanken schmiss ich, mit einer kurzen Handbewegung, den Stein in das innere der Zelle. Keine Sekunde später traf er auch schon auf dem Boden auf. Doch zu meinem Bedauern tat sich nichts in der Zelle. Es blieb totenstill. Langsam bekam ich Zweifel, ob er überhaupt noch dort war. Vielleicht hatte man ihn mitgenommen? Irgendwo anders hingebracht? Aus Panik griff ich nach einem weiteren Stein und schleuderte ihn ohne weiter darüber nachzudenken, erneut hinein.

Doch wieder nur Stille.

,,Wo zum Henker ist-'', fing ich gerade an unbeherrscht vor mich hin zuflüstern.

,,Wieso verschwindest du nicht endlich?'' Mein Atem stockte und meine Augen weiteten sich unwillkürlich. Er war da.                                                                                                                                                      Ich antwortete nicht und beobachtete stattdessen, wie er zögernd in das Licht des Mondes trat, sodass ich ihn vollends sehen konnte.

Gott sei Dank.

,,Hör auf dich in Gefahr zu bringen. Geh zurück und komm nicht wieder'', sprach er weiter und starrte mit gerunzelter Stirn zu mir nach oben.

,,Ich denke noch nicht einmal daran. Was ist nur los mit dir? Willst du sterben? Weißt du, dass sie deine Exekution planen?'', entgegnete ich zornig und konnte es mir nicht nehmen aufgeregt mit den Händen zu fuchteln.

Er trat näher an die Gitterstäbe heran.

,,Sprich leiser, wenn du schon hier bist. Ansonsten findet diese Exekution schneller statt, als dir anscheinend lieb ist.'' Ich schüttelte ungläubig den Kopf.

,,Du sprichst geradezu, als wäre es in Ordnung für dich dein Haupt zu verlieren.''

Er verengte leicht die Augen, sodass man es kaum erkennen würde, hätte man ihn nicht genaustens beobachtet.

,,Wieso ist dir das so wichtig, hm? Du bist die Tochter Macans. Du solltest mit Leib und Seele hinter dieser Entscheidung stehen und nicht versuchen irgendetwas zu ändern.'' Er hatte Recht. Das konnte ich nicht bestreiten. Doch eine logische Antwort konnte ich ihm nicht auf seine Frage geben. Hatte ich doch selbst Tag und Nacht nach dieser Antwort gesucht - vergeblich.

,,Aber ich versuche etwas zu ändern und stehe nicht mit Leib und Seele hinter dieser Entscheidung. Warum ist doch vollkommen nichtig. Und anstatt mir die ganze Sache auszureden, solltest du mir lieber helfen.''

,,Wenn sie dich erwischen...'', fing er erneut an, doch dieses Mal ließ ich ihn nicht ausreden.

,,Kannst du das mal endlich lassen?! Verstehst du denn nicht, dass ich nicht mehr rauskomme aus dieser ganzen Geschichte? Das ich nicht rauskommen will ?''

Er schloss den Mund und sah mich mit ausdruckslosem Gesicht an. Und noch nie in meinem Leben wollte ich so sehr die Gedanken eines Menschen erfahren, wie in diesem Moment.

,,Du bist anders'', flüsterte er. ,,Du kennst mich kaum, ich werde wegen Mordes verdächtigt und von deinem Vater verurteilt, von allen aus deinem Reich gehasst und du? Du versuchst mir zu helfen. Das Leben hat mich schon unzählige Male vor Rätsel gestellt. Doch du bist mit Abstand das größte, Zarida.'' Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg und war mit einem Mal unheimlich dankbar für die Dunkelheit, die mich umgab.

,,Also bist du einverstanden mit mir zusammen zu arbeiten?'', fragte ich mit gedämpfter Stimme und hörte, wie ein hoffnungsvoller Unterton mitschwang.

Er umgriff mit einer Hand eine der Stangen und näherte sich noch mehr an die Öffnung.

,,Bevor wir unsere kleine Allianz hier bilden, habe ich noch eine einzige Frage.'' Ohne zu zögern nickte ich und wartete darauf, dass er weitersprach.

,,Wieso fragst du mich nicht, ob ich der Mörder bin?''

***

Ihr Gesichtsausdruck konnte viel verraten von ihren Gedanken, man musste nur auf jede Kleinigkeit achten. So war sie zuvor leicht rot geworden, als hätte sie nicht erwartet solche Worte von mir zu hören. Oder das Glänzen in ihren Augen, die ihre Freude preisgaben, als ich zu einer Zusammenarbeit zustimmte. So unheimlich viel konnte man ablesen - und dennoch erschien sie mir so unverständlich.

Lange Zeit sagte sie nichts, sah mir nur in die Augen und machte sich dem Anschein nach, Gedanken über eine Antwort. Nie würde ich zugeben, dass mir diese Antwort mehr als vieles andere bedeutete. Warum das so war, wusste ich selbst nicht. Ich konnte mir noch nicht einmal erklären, wieso ich ein gewisses - nicht mit Worten beschreibbares - Glück empfunden hatte, als sie vor den Gitterstäben meiner Zelle aufgetaucht war. Im Grunde hätte ich sauer sein sollen, ich hatte es sogar versucht. Hatte versucht, sie wieder abzuwimmeln. Aber das stellte sich als schwerer heraus, als gedacht. Doch schließlich und endlich war ich froh gewesen, dass sie da aufgetaucht war, im Schatten des Mondlichts. Wie ein Engel, der mir einen Besuch abstatten wollte. Ich musste mich beherrschen, um bei diesem Gedanken nicht zu schmunzeln. Denn sie glich wirklich einem Engel. Äußerlich, wie innerlich.

Als sich eine kleine, unscheinbare Falte zwischen ihren feinen Augenbrauen bildete, wusste ich, dass sie jeden Moment antworten würde und machte mich auf jede Art dieser Antwort bereit.

,,Weil ich die Wahrheit bereits kenne.'' Mit diesen Worten hatte ich jedoch definitiv nicht gerechnet.

,,Und was ist die Wahrheit deiner Meinung nach?'', fragte ich nach. Ich wollte es wissen. Das Verlangen danach es aus ihrem Mund zu hören, war unglaublich stark. Und nichts hätte ich in diesem Moment lieber, als dieses Verlangen endlich zu stillen.

,,Die Wahrheit ist, dass du ein Idiot bist, der sich nie verteidigt, obwohl er jedes Recht dieser Welt dazu hätte.'' Ich konnte nicht anders, als leise aufzulachen. Dieses Mädchen war ein Fall für sich. Ein Fall, der mich zum Lachen brachte. Etwas, was ich seit Jahren nicht mehr getan hatte. Ein Privileg, das ich nicht genießen konnte.

,,Ich muss zugeben, ich emfpinde eine gewisse Freude, dass wir uns in dieser Wahrheit einig sind.'' Ich untertrieb maßlos. Denn ich emfpand nicht nur eine gewisse Freude, sondern es schien, als würde jeder Winkel des Glücks in diesem Moment neben mir stehen. Denn in diesem Moment erfuhr ich, dass sie nicht daran glaubte. Sie glaubte nicht daran, dass ich der Mörder war.

Ein kleines Lächeln erschien auf meinem Gesicht und spiegelte das ihre wider, als sie ihre kleine Hand durch die Stäbe schob und sagte:

,,Wir haben also einen Deal?'' Eine ihrer Augenbrauen hatte sie nach oben gezogen, während ihre Stimme gespielt ernst blieb.

Ich nahm ihre Hand vorsichtig in meine, die nahezu doppelt so groß schien. Aber anstatt sie zu schütteln, drehte ich sie leicht und platzierte einen federleichten Kuss auf der weichen, reinen Haut.

,,Wir haben einen Deal, Prinzessin.'' 

ZaridaWhere stories live. Discover now