Kapitel 11

592 31 2
                                    

Da ich noch leicht überfordert mit meinem Sturz und Pauls Angespanntheit war, kam ich momentan nicht dazu, mir Gedanken über den Hintergrund seiner Frage zu machen und versuchte stattdessen bloß, ihm eine vernünftige Antwort zu geben.

„Ich hab mir Sorgen gemacht", erklärte ich das Offensichtliche. Dann verdrängte ich die ängstliche Stimme aus meinem Hinterkopf und trat wieder auf Gideon zu. „Eigentlich wollte ich schon gestern, ach was, vorgestern kommen, aber Lucy und Paul meinten, ich soll lieber noch . . ."

Gideon verdrehte die Augen und stieß ungeduldig einen Schwall Luft aus. Er hatte tatsächlich die Augen verdreht! Erneut hörte ich mitten im Satz auf zu sprechen und sah ihn fassungslos an. Erst jetzt fiel mir auf, dass seine Haare seit vorgestern um ein ganzes Stück gewachsen waren. Und seit wann hatte er die Narbe auf der Stirn?

„Du siehst grässlich aus."

Es war ein ganz normales Statement, als habe er mich nur darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Sonne draußen schien. Was sie natürlich nicht tat, wir befanden uns schließlich in London. Und dennoch ließ dieser eine Satz, so ruhig ausgesprochen, etwas in meinem Innern platzen.

„Guck dich doch mal an!", stieß ich verärgert aus und warf ihm einen bösen Blick zu. Er sah wirklich nicht gut aus. Also natürlich schon, aber sein Gesicht war ungewöhnlich blass und bildete einen ungesunden Kontrast zu den dunklen Haaren und grünen Augen. Für einen kurzen Moment lang entglitt ihm der saure Gesichtsausdruck und schlug in Verblüffung um. Seine Mundwinkel zuckten unmerklich, doch er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. Und dann lehnte er sich einfach in sein Kissen zurück und schloss die Augen. Wie bitte?!

Ich gab einen empörten Laut von mir und stapfte mit geballten Fäusten auf ihn zu. Erst, als ich direkt neben ihm stand und mit dem Gedanken spielte, meine Faust auf seine Schulter krachen zu lassen, schlug er die Augen wieder auf und rückte ein Stück von mir ab, als habe er meine Gedanken erraten. Dann glitt sein Blick auf eine Weise, in der er mich noch nie gemustert hatte, über meinen Körper. Abschätzend, vom Kopf bis zur Mitte meines Oberschenkels, denn der Rest konnte er nicht sehen. Ich zitterte am ganzen Körper, ob vor unterdrückter Wut oder Enttäuschung ließ sich nicht sagen.

„Hast du abgenommen? Respekt, Gabrielle. Und ich hätte nicht gedacht, dass ich das eines Tages mal sagen würde, aber das Top steht dir", verkündete Gideon und unterstrich diesen Gedanken mit einem ausgiebigen Blick auf mein Dekolletee, der mir leider Gottes das Blut in die Wangen trieb.

Sobald ich heute Mittag zuhause angekommen war, hatte ich meinen gesamten Kleiderschrankinhalt in die Tonne gekloppt und ihn durch die Ausbeute des gestrigen Tages ersetzt. Nun trug ich ein tiefgeschnittenes blaues Top mit dunklen Tupfen darauf und dazu eine Röhrenjeans, die sich nach den weitgeschnittenen Flickenjeans wunderbar an meinen Beinen anfühlte.

„Allerdings muss ich dich enttäuschen, Gabs", unterbrach Gideon meine Gedanken, den Blick jetzt wieder auf mein Gesicht gerichtet. Seine Augen funkelten giftgrün. Erst jetzt realisierte ich langsam aber sicher, was sein Verhalten zu bedeuten hatte. Der anfängliche Schock verflüchtigte sich und ein erdrückendes Gefühl breitete sich in meiner Kehle aus. Er erinnerte sich nicht. Er hatte sich verändert. Oder nicht verändert, wie auch immer man das sehen mochte.

Ich wartete nicht mehr ab, aus welchem Grund genau er mich enttäuschen musste, sondern verpasste ihm eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Mit dem befriedigenden Geräusch des Zusammentreffens meiner Hand mit seiner Wange verließ mich meine Verärgerung mit einem Schwung und machte Verzweiflung Platz. Meine Hand, die jetzt auf seiner Wange ruhte, schien ein Eigenleben zu entwickeln und begann, sanft über seine Haut zu fahren. Ich spürte Bartstoppeln unter meinen Fingern und stellte beiläufig fest, dass mir eine stumme Träne über die Wange lief.

MondsteingrauWhere stories live. Discover now