Kapitel 6

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„Ich muss zu ihm!", rief ich aufgebracht und wischte mir die Tränen aus den Augen. Ich würde kein einziges von Lucys Worten glauben, bis ich Gideon nicht mit eigenen Augen gesehen hatte.

Sie seufzte tief.

„Was hältst du davon, wenn du morgen zu ihm fährst? Bis dahin hast du dich vielleicht ein bisschen beruhigt und kannst dich besser auf die Situation einstellen."

Alles, was sie sagte, machte Sinn, doch mein Herz wollte etwas anderes. Dieses eine Mal ließ ich allerdings meinen Verstand entscheiden. Lucy hatte Recht. Und falls Gideon sich wirklich verändert (beziehungsweise nicht verändert) hatte, dann würde ich nach dem, was ich gerade über ihn gehört hatte, vermutlich zusammenbrechen, wenn ich ihn sah. Außerdem gab es genügend andere Dinge, mit denen ich mich zurzeit abfinden musste. Vielleicht sollte ich wirklich ein wenig abwarten. Er lief mir ja nicht davon.

„Okay", willigte ich also leise ein. Es war die richtige Entscheidung.

Lucy lächelte erleichtert.

„Und heute Nachmittag, bevor wir zu Grandma und Grandpa fahren, könnten wir shoppen gehen, zusammen mit Leslie! Was hältst du davon?", fragte sie mit funkelnden Augen.

Davon hielt ich eine ganze Menge! Neue Klamotten zu kaufen erschien mir beinahe genauso wichtig wie Gideon zu sehen. Die Dinger waren so schrecklich!

„Habe ich diese Sachen wirklich freiwillig angezogen oder habt ihr mich gezwungen wie eine Nonne . . . oder eine Obdachlose herumzulaufen?", fragte ich mit einem kleinen Lächeln.

„Gwenny! Du sahst nie wie eine Obdachlose oder eine Nonne aus! Und wir haben dich bestimmt nicht gezwungen, dir die Sachen zu kaufen. Was meinst du, wie oft ich dich in den letzten Jahren versucht habe zu überreden, dir ein paar schöne Sachen zu kaufen?"

Hier lachte sie leise und streckte die Hand nach mir aus, um mir liebevoll über die Wange zu streicheln.

„Du warst der Meinung, dass Klamotten nicht den Charakter eines Menschen ausmachen dürfen und wir unser Konsumverhalten herunterschrauben sollten. Was ja wirklich lobenswert ist, aber . . . na ja, das heißt ja nicht, dass man immer nur schwarze Säcke anziehen muss."

Ich nickte heftig. Offensichtlich war ich der Inbegriff eines Langweilers gewesen.

„Das ist wirklich bescheuert", murmelte ich.

Es war merkwürdig, über sich selbst zu reden als handelte es sich um eine andere Person. Aber so war es nun mal. Ich war offensichtlich eine komplette Öko-Tante gewesen!

In diesem Moment klingelte das Telefon. Lucy sprang auf und lief in den Flur, um abzunehmen.

„De Villiers", meldete sie sich und bescherte mir damit beinahe eine Herzattacke.

De Villiers?! Sie hatte Pauls Namen angenommen! Und das hieß, dass auch ich nun eine echte de Villiers war. Oh Gott. Mir war zum Heulen zumute. Ich war eine Shepherd, vielleicht noch eine Montrose, aber doch keine de Villiers! Das war schrecklich, vor allem weil es mir deutlich machte, dass ich eben doch über 26 Ecken mit Gideon verwandt war. Der Gedanke war einfach nur verstörend. Würden die Leute nicht reden, wenn sie uns zusammen sahen?

Doch dann fiel mir wieder ein, was Lucy mir über den Gideon aus ihrer Erinnerung erzählt hatte und ich verwarf diese Gedanken rasch wieder. Offensichtlich hatten wir uns nicht besonders nahe gestanden.

Erst, als Lucy mir den Hörer entgegenstreckte, kehrte ich wieder ins Jetzt zurück. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war vorsichtig, doch sie lächelte.

MondsteingrauWhere stories live. Discover now