Kapitel 3

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Ich hatte kaum Zeit, mich auf Edwins Attacke vorzubereiten und ging in die Hocke, um ihn in die Arme zu schließen. Es fühlte sich erstaunlich vertraut an, seinen kleinen Körper zu umarmen. Als hätte ich es schon hundert Mal getan. Was natürlich auch der Fall war.

„Hey, Kleiner", begrüßte ich ihn.

„Hey, Gwenny", antwortete er und begrüßte seine Mama. Unsere Mama. Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf, noch immer ein bisschen neben der Spur.

Als ich sie wieder öffnete, sah ich, dass Paul mir zulächelte und ziemlich stolz aussah. Ich wurde schon wieder sentimental. Gott, dieser Tag war einfach schrecklich!

„Hallöchen! Ist alles gut gelaufen?", ertönte eine ziemlich vertraute Stimme hinter Paul und ich reckte den Hals, um an ihm vorbei in den Flur zu sehen. Dort stand die rothaarige Inkarnation meiner Albträume und lächelte breit in die Runde.

„Charlotte?", stieß ich ungläubig aus und trat auf sie zu. Es war kaum zu fassen, was für eine Erleichterung mich bei ihrem Anblick überkam, Albtraum hin oder her. Sie war normal.

Das dachte ich jedenfalls, bis sie mir ein engelsgleiches Lächeln schenkte, auf mich zutrat und mich in die Arme schloss. Einen Moment lang konnte ich mich nicht bewegen. Das musste der Schock sein. Was zur Hölle?!

Sie trat zurück und musterte mich besorgt.

„Gott Gwen, ich hab mir solche Sorgen gemacht!"

Ihr Blick fiel auf Edwin, der mit gespitzten Ohren zu uns hinüberblickte und sie senkte die Stimme. „Du musst mir gleich unbedingt alles erzählen! Ich hab schon versucht, etwas aus Grandpa herauszubekommen, aber ich fürchte, er hat da ein bisschen was durcheinander gebracht."

Sie seufzte theatralisch und hatte immer noch dieses unfassbar nette Lächeln im Gesicht. Ich starrte sie bloß aus weit aufgerissenen Augen an und war mir nicht ganz sicher, ob mir die Kinnlade hinunterhing.

„Was machst du hier?", war alles, was ich nach einigen Sekunden herausbekam. Am liebsten hätte ich noch ein „Was ist denn mit dir los?" hinten dran gehängt, aber irgendwas an ihrem Blick hielt mich davon ab. Moment. Riss ich mich gerade ernsthaft am Riemen, damit ich Charlottes Gefühle nicht verletzte? Die Welt stand Kopf!

„Na, ich hab auf Edwin aufgepasst", gab sie zurück, streckte ihm die Zunge heraus und zwinkerte, woraufhin er eine Grimasse schnitt.

Das gab mir den Rest. Wenn Lucy nicht irgendwann die Hand auf meinen Rücken gelegt und mich langsam ins Haus geschoben hätte, hätte ich mich wahrscheinlich morgen noch nicht vom Fleck bewegt.

Okaaay. Offensichtlich hatte Charlotte sich von einer eiskalten Ziege in . . . was verwandelt? Waren wir etwa befreundet? Bei diesem Gedanken spürte ich, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Hatte ich in diesem Leben nicht mehr alle Latten am Zaun?

„Danke fürs Babysitten, Charlotte", sagte Lucy und schloss die Tür hinter sich, während Edwin krähte: „Ich bin kein Baby!" Dann raste er den Flur hinunter und verschwand in einem der angrenzenden Zimmer. Paul folgte ihm.

„Ist alles okay, Gwenny?", erkundigte sich Charlotte und schaute mich besorgt aus ihren großen, blauen Augen an. Ich nickte stumm. Gwenny? So hatte sie mich noch nie genannt! Außer sie wollte mich auf einen besonders dummen Fehler meinerseits aufmerksam machen. Ich erinnerte mich daran, dass auch Falk mich vorhin bei meinem Spitznamen genannt hatte, und wusste wirklich nicht, was ich gruseliger finden sollte.

„Was haltet ihr davon, wenn ihr ein bisschen nach oben geht und euch in dein Zimmer setzt, Gwen?", schlug Lucy vor und nahm mir meine Jacke ab. „Dann kannst du Charlotte auf den neusten Stand bringen."

MondsteingrauWhere stories live. Discover now