29. Verzweiflung

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Ich kauerte zusammengesunken auf der Straße und ließ die Kälte von meinen Körper Besitz ergreifen. Die seelischen Schmerzen schnürten mir die Luft ab, mein Atem ging nur noch stoßweise.

Sie war weg. Und es war meine Schuld.

Die Tränen flossen stumm über mein Gesicht und hinterließen eine salzige Spur auf meiner Haut. Und erst jetzt wurde mir klar, was soeben passiert war. Es kam mir vor, als wären Stunden vergangen, seit die Werwölfe angegriffen hatten. Die Kampfgeräusche, die brennenden Schmerzen, das Feuer in meiner Seele.

Ich hatte zwei Männer umgebracht.

Ohne zu zögern hatte ich das Leben aus dem Werwolf herausgesogen, und dem anderen das Genick gebrochen. Der metallische Geschmack des Blutes, das erlöschende Licht in ihren Augen, und die Wut tief in mir drin.

Ich war eine Mörderin.

Diese Erkenntnis traf mich wie ein harter Schlag, und ich wimmerte. Sie wollten dich auch umbringen, flüsterte eine leise Stimme in mir.

Doch das alles hatte nichts gebracht. Mum war weg, in der Gewalt dieses grausamen Werwolfs. In meinen Ohren klang immer noch die kalte Stimme, das gehässige Lachen, ich sah die eisigen Augen noch genau vor mir.

Das alles war meine Schuld. Sie wollten mich, nicht sie. Und ich hatte noch bis Neumond Zeit, mich zu stellen, sonst würde Mum an meiner Stelle sterben.

Ich erhob mich, und spürte den Hass, der sich langsam an die Oberfläche kämpfte. Er gab mir Kraft und verdrängte die Schmerzen, trieb mich immer weiter an. Dieser lodernde Hass auf die Werwölfe hinderte mich daran, zurück auf den kalten Asphalt zu sinken.

Mit glühenden Augen verwandelte ich mich in meine Wolfsgestalt und rannte. Ich rannte zwischen den Bäumen hindurch, ignorierte den eisigen Wind, der mir entgegenwehte, achtete nicht auf die Dornen, die meine Haut zerkratzten.

Das alles war unwichtig.

Ich würde mich den Werwölfen stellen, ich konnte nicht zulassen, dass Mum für mich leiden musste. Wenn ich mich auslieferte, würden sie mich früher oder später umbringen, dass war mir klar, doch was auch immer sie mit mir vorhatten, meiner Mutter würde nichts passieren. Und wenn ich wirklich sterben sollte, würde ich so viele von ihnen wie möglich mitreißen.

Dieser Gedanke beruhigte mich, und ich versuchte, nicht weiter an die Fragen zu denken, die in meinem Kopf herumgeisterten, doch es gelang mir nicht.

Was wollten die Werwölfe von mir? Und wozu brauchten sie mich lebend?

Ich rannte immer weiter, ließ mich von meinen Wolfsinstinkten leiten, und verlor jegliches Zeitgefühl. Als Wolf war ich dazu in der Lage, meinen ganzen Schmerz in Energie umzuwandeln. Doch gerade der Schmerz war es, der mich daran hinderte aufzugeben und mich ins feuchte Gras sinken zu lassen.

Doch ich musste weiter. Das war ich Mum schuldig.

Nach einer Weile lichteten sich die Bäume und der helle Mond stand über mir, ein bekannter Geruch stieg mir in die Nase. Vor mir erstreckte sich eine steinerne Mauer, zwei Laternen beleuchteten das hohe Tor der Klosteranlage. Ich verwandelte mich zurück in einen Menschen und lehnte mich gegen einen Baum.

Die Trauer um meine Mum überrollte mich wieder und Tränen stiegen mir in die Augen. Ohne nachzudenken lief ich los, trat durch das Tor und rannte über das Geländer. Kein anderer außer mir war unterwegs, nur in manchen Fenstern brannte noch Licht, vereinzelte Laternen beleuchteten den schmalen, gewundenen Weg. Bei der Vorstellung, jetzt allein in der dunklen Küche zu sitzen und der tickenden Uhr zu lauschen lief es mir kalt den Rücken hinunter. Ich brauchte jetzt jemanden, der mir zuhörte, der mit mir redete.

Zögernd blieb ich stehen, als ich sah, wohin mich meine Füße getragen hatten. Ich stand vor der Tür von Haus Nr. 2, meine Knie zitterten leicht, als ich erschöpft einen Fuß auf die erste Stufe setzte und eine Hand hob. Ich hielt inne, und meine Hand verharrte nur wenige Zentimeter von der Tür entfernt in der Luft. Dann holte ich tief Luft und klopfte an.

Drei mal.

Ich horchte auf und hörte ein leises Rascheln, dann schlurfende Schritte, bevor die Tür aufgeschlossen wurde. Antonio stand mit Jogginghose und T-Shirt so dicht vor mir, dass sein Atem meine Stirn streifte.

"Thalia, was zum...", murmelte er verschlafen, verstummte jedoch als er mich ansah. Er riss seine Augen auf, Augenblicklich war alle Müdigkeit verschwunden. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie ich aussehen musste: Mit zerrissener Kleidung, überall Blut und mit verheulten Augen. "Hey, was ist los? Wo warst du?" Besorgt musterte er mich.

Ohne zu antworten fiel ich ihm um den Hals, dann löste sich meine innere Blockade und ich begann zu schluchzen. Antonio schien überrascht, dann entspannte er sich wieder und legte einen Arm um mich. Sanft strich er über meinen Rücken, und flüsterte mir leise, beruhigende Worte ins Ohr.

So standen wir eine Weile da, und für einen Augenblick, einen winzigkleinen Augenblick fühlte ich mich sicher und geborgen, konnte die Sorgen aus meinen Gedanken verbannen.

Im Schatten des Mondes (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt