»prolog {✔️}

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Ich rannte.

Meine bloßen Füße trugen mich über den kalten, moosigen Waldboden, zwischen den Bäumen hindurch sah ich den hellen Mond am Himmel strahlen. Meine nackte Haut war wund von den Dornen und Zweigen, die mir entgegenpeitschten. Hinter mir raschelte es, ich biss die Zähne zusammen und beschleunigte meine Schritte. Der Wind blies mir seinen kühlen Atem ins Gesicht, ich kniff die Augen zusammen und hielt die Tränen zurück.

Bald würde es vorbei sein.

Ein Ast verfing sich in meinem Kleid, riss ein Loch in den weichen Stoff. Ohne mich umzublicken lief ich weiter und wich mehreren tief hängenden Dornenranken aus, die ihre Schatten nach mir auszustrecken schienen.

Bald würde es vorbei sein. Der Schmerz, die Trauer, die Wut.

Vorbei.

Mein Atem stieg in nebligen Wölkchen vor mir auf und verschwand in der Dunkelheit der Nacht.
Ich erreichte einen kleinen Bach, das Wasser plätscherte leise und die Mondstrahlen glitzerten auf der schimmernden Oberfläche. Nach kurzem Zögern raffte ich den schmutzigen Stoff meines Kleides mit meinen Fingern zusammen und watete durch das eiskalte Wasser. Es umfloss sanft meine zerschundenen Knie und ließ mich erschauern, Gänsehaut kroch meine Arme hinauf, wie eine unsichtbare Schicht aus Eis.

Ich umklammerte den rutschigen Griff des silbernen Dolches, der in meiner bebenden Hand ruhte, während ich das nächste Ufer erreichte und zitternd zum stehen kam.

Dicht hinter mir ertönte ein lautes Knurren, langsam drehte ich mich um. "Du bist zu spät", wisperte ich mit leiser Stimme und beobachtete, wie der rabenschwarze Wolf sich in einen jungen Mann verwandelte. Er sah verzweifelt auf die silberne Klinge in meiner Hand und machte einen Schritt auf mich zu.

"Nicht...", murmelte ich. „Es ist schon passiert. Was jetzt kommt wird keiner aufhalten können." Kurz zögerte ich und spürte, wie meine Gefühle mir die Luft abzuschnüren drohten. "Nicht einmal du."

Er kam weiter auf mich zu,
doch ich rührte mich nicht vom Fleck. "Bitte", flehte er mit rauer Stimme und strich mir sanft über die Wange. "Es muss nicht so kommen."

Traurig schüttelte ich den Kopf und legte eine eiskalte Hand auf seine Brust. "Doch." Eine einzelne Träne rollte meine Wange hinunter, ich wischte sie hastig weg.

"Warum?" Er griff nach meinen Fingern und verschränkte sie mit seinen, doch ich wich seinem Blick aus und versuchte das warme Kribbeln in meinem Körper zu ignorieren.

"Schicksal", hauchte ich. "Es ist Schicksal..." Wir sahen uns in die Augen, er beugte sich zu mir runter. Ich schloss die Augen als er seine Lippen auf meine legte und meine Taille umfasste. Es war ein sanfter Kuss, und doch voller Leidenschaft.

Ein allerletztes Mal fühlte ich mich in seinen Armen geborgen, spürte die intensive Wärme in meinen Adern fließen. Ein letztes Mal.

Hinter seinem Rücken hob ich meinen Dolch und zog mir mit einer raschen Bewegung die Klinge über meine Handfläche.

Das leichte Brennen setzte wenige Sekunden später ein, ich spürte das warme Blut meine Hand hinunterfließen und meine Haut mit diesem roten Schimmer benetzen.

Taumelnd löste ich mich von ihm, wand mich aus seinem Griff.

"Es tut mir leid", flüsterte ich und ließ meinen Tränen freien Lauf, während ich in die Knie ging und meinen Blick in den Himmel richtete.
"Mit Blut besiegelt", hauchte ich mit letzter Kraft und ließ drei rote Tropfen auf den Stein fallen. Der Mond leuchtete hell auf, ein letztes Mal sah ich ihm in die Augen.

"Nein!", rief er mit schmerzerfüllter Stumme. "Tu das nicht..."

"Leb wohl." Kaum waren die Worte über meine Lippen gekommen, sackte ich in mich zusammen.

Es war vorbei.

Der Schmerz.

Alles.

Es war mein Schicksal, und ich hatte meine Bestimmung erfüllt.

Nun war es vorbei.

Für immer.

Im Schatten des Mondes (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt