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ALESSIA

Er verschwindet tatsächlich. Einmal nimmt er sich meine Worte zu Herzen und tut, was man von ihm verlangt. Nachdem ich in den Personalraum geflüchtet bin, um nicht in Tränen auszubrechen, stellte ich bei meiner Rückkehr fest, dass die Sitzecke, in der er kurz vorher noch gesessen hatte, leer war. Lediglich ein fünfzig Euro Schein lag noch auf dem Tisch. Weit mehr, als der Drink gekostet hat. Soll das Trinkgeld sein? Wenn ja, dann habe ich es Luigi zugeschoben, damit er es in die Kaffeetasse steckt. Ich werde sicher kein Geld eines Mannes wie Romeo annehmen. Sein Familie ist steinreich aber die Dinge, die sie taten und das zu erreichen, verabscheue ich. Antonio ist ein grausamer Mensch und ich fürchte, dass seinen Sohn dasselbe Schicksal ereilen wird. Es sollte mir egal sein. Trotzdem zerbreche ich mir den Kopf über etwas, was nicht real ist.
Es gibt kein uns.
Der Rest meiner Schicht verläuft ereignislos. Ich bediene, schenke Drinks aus. Bis zum Schluss ist es brechend voll in der Bar, was mich nicht wundert. Sie ist immer gut besucht und dank des Trinkgelds, was ich bekomme, lohnt sich dieser Job für mich. Die Cateringfirma ist eine nette Nebenbeschäftigung. Wenn ich es jeden Abend machen könnte, dann wäre ich meinem Ziel schon etwas näher. Auch langsam kommt man ans Ziel, nicht?

»Danke für die Hilfe heute. Michelle wird in ein paar Tagen wieder da sein, danach kann ich dir etwas frei geben«, bedankt Luigi sich, nachdem wir den Laden geschlossen haben. Ich moppe die letzten verschütteten Drinks auf, die wir beim Aufräumen verursacht haben und sehe meinen Chef an. Zwischen uns die Bar. Er poliert gerade Gläser. »Danke Luigi, aber ich-«
»Bezahlten Urlaub«, korrigiert er sich. Ich seufze, rauche den Mop in den Eimer mit Putzwasser und wringe ihn aus. »Ich weiß nicht recht ... Ich brauche das Trinkgeld, und-«
»Alessia ich kann dich nicht so lange arbeiten lassen. Du weißt doch, mehr als zehn Tage geht nicht. Du musst dir mindestens einen frei nehmen. Außerdem habe ich dir schon zwei eingetragen, weil ich weiß, dass du sonst protestieren wirst.«
»Mache ich doch ohnehin schon...«, seufze ich und hebe den Eimer an. Zwei Tage frei bedeutet zwei Tage weniger Geld, weil ich kein Trinkgeld bekomme. Selbst wenn er mir bezahlten Urlaub gibt, mache ich minus. Was für eine Wahl habe ich jedoch? Er hat recht, wenn er sagt, dass ich rein rechtlich nicht mehr als zehn Tage arbeiten darf. Also wird mir keine Wahl bleiben.
»Ich ... Ich denke darüber nach, danke Luigi«, versichere ich ihm und kippe das Wasser fort ins Klo. Nachdem wir alle Gläser geputzt und verträumt haben, sortiere ich Servietten ein und wische die Tische ab.

Mein Fuß macht einen Schritt über die Türschwelle hinaus in die frühe Morgensonne, da kann ich mir kein gähnen unterdrücken. Müde schlage ich mir die Hand vor den Mund und warte, bis mein Boss die Tür hinter uns verriegelt hat, verabschiede mich von meinen Kollegen und schlage den Weg in Richtung meiner Wohnung ein. Im Laufen werfe ich mir Punkt sechs Uhr meine Tabletten ein und spüle sie mit etwas Wasser hinunter. Mein Magen knurrt hungrig auf. Vielleicht finde ich noch etwas in meinem Kühlschrank, um ihn zu stillen, bevor ich ins Bett falle. Mit hungrigen Magen kann ich nächtlich unmöglich schlafen.
Gerade als ich um die nächste Ecke biege, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Ruckartig halte ich in meiner Bewegung inne, als ich den dunklen Porsche an der Straßenseite entdecke. An dessen Seite lehnt niemand anderes als Romeo. Er raucht, schnippt die Zigarette achtlos fort, als er mich ausmacht. Verdammt. Mit klopfendem Herzen schultere ich meine Tasche, grabe meine Finger tief in den Lederriemen und marschiere mit großen Schritten weiter. Ich wage es nicht, ihn in die Augen zu schauen.
»Alessia-«
»Stalkst du mich?« Er hat ernsthaft die halbe Nacht hier gewartet, nur um mich zur Rede zu stellen? Unmöglich. Wieso kann er mich einfach nicht in Ruhe lassen verflixt?
»Jetzt lauf nicht weg... lass mich dich fahren.«
»Fick dich, Romeo.«
»Komm schon, bitte ... deine Wohnung ist zu weit weg und-«
»Ich finde den Weg dahin gut allein«, fahre ich ihm über den Mund. Ich bin längst an ihm vorbeigelaufen, als mich seine Hand am Oberarm erwischt und mich herumwirbelt. Ich verliere fast das Gleichgewicht, kann mich gerade noch so abfangen. Mist. »Lass mich!« fauchend entziehe ich ihm meinen Arm und schiebe meine Tasche zurück auf meine Schulter. »Wieso lässt du mich nicht in Ruhe?«
»Weil ich will, dass du mir zuhörst! Nur ein verdammtes Mal!«, fährt er mich an.
»Das hattest du bereits vor ein paar Stunden und jetzt lass mich in Frieden, bevor ich die Polizei rufe und dich Anzeige«, drohe ich. Das ich es nicht tun würde, wissen wir beide. Seine Familie ist viel zu einflussreich, als dass ich wirklich etwas damit bewirken könnte. Am Ende würde man mich noch beschuldigen, mir alles ausgedacht zu haben, mich zu bedrohen und ganz andere Dinge. Sein Vater ist zu allen im Stande. Antonio ist kein Mensch, dem man allein begegnen mag.

Romeos blaue Augen, fressen sich wie zwei Parasiten in die meine. Ich kann mein Gesicht nicht abwenden. Sein Blick ist so einnehmend, dass sich der Kloß in meinem Hals verdreifacht. Sein Mundwinkel zuckt. Das der Arsch bei allem noch so dämlich grinsen kann! Ugh, ich hasse ihn so unglaublich monstermäßig sehr.
»Das würdest du nicht wagen, das wissen wir beide«, entlarvt er meine leere Drohung.
»Grins nicht so dämlich!«, zische ich. Er hebt beschwichtigend seine Hände. »Schon okay, tut mir leid. Steigst du jetzt ein? Ich meine das Ernst, Alessia.«
Protestierend verschränke ich meine Arme vor der Brust, auf dem Gehweg stehend wie eine Salzsäule. Zum Glück sind die Straßen zu dieser Uhrzeit leer. Zu jeder anderen, wäre ich schon längst gerannt, damit man uns nicht zusammen sieht. Das wäre wirklich mein Untergang.

»Wieso quälst du mich so?«, möchte ich wissen, meine Stimme zittriger als beabsichtigt. Fuck, Ich will mich nicht schwach zeigen. Ihn nicht gewinnen lassen, doch im Moment übermannt mich die Müdigkeit so sehr, dass ich emotional werde. Ich bereue es bereits jetzt. Romeo tritt einen Schritt auf mich zu. In seinem Jackett und der feinen Hose, wirkt er wie der perfekte Sohn. Ein reicher Schnösel, der nicht so hässlich ist wie er sein sollte. Das hätte mir einiges an Herzschmerz und Drama erspart.
Er besitzt die Dreistigkeit, seine Hand zu heben und mir eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr zu streichen. Ich zucke zurück, als hätte er mir eine Backpfeife gegeben. Seine Finger waren nur Millimeter von meinem Gesicht entfernt. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. Unsere Iriden kreuzen sich erneut, diesmal schaffen sie es nicht, mich in ihren Bann zu ziehen, auch wenn seine tiefblauen Augen mir leidvoll entgegenschauen. Ein Schauspiel oder die ungefilterte Wahrheit?
Unterbewusst habe ich die ganze Zeit die Luft angehalten, die mir erst jetzt, wie ein platzendes Gefäß entweicht. Schlagartig und mit voller Wucht. Ich ramme meine Hände in seine Brust, um ihn von mir zu schubsen. Dabei fällt meine Tasche zu Boden, dessen Inhalt sich quer auf dem Gehweg verteilt. Fluchend Knie ich mich hinab, um alles wieder einzusammeln. Auch noch direkt vor seinen schicken Lackschuhen. Wie könnte er mich noch mehr demütigen? Erst bei der Gala und jetzt das? Schniefend lange ich nach meinem Kugelschreiber und stecke ihn zurück in meine Tasche. Auch Romeo geht in die Knie, greift im selben Moment wie ich nach meinem Portmonee. Diesmal weiche ich nicht zurück. Unsere Fingerkuppen berühren sich für den Bruchteil einer Sekunde, aber ausreichend, um eine Erinnerung vor mein inneres Auge zu katapultieren.
Wir zusammen am Strand. Glücklich.
Schluckend schnappe ich es mir aus seinen Händen, bevor er reagieren kann. Ich stopfe den Rest in meine Tasche, erhebe mich wieder und mache auf dem Absatz kehrt.
Hinter mir sein genervtes Stöhnen.
»Jetzt komm schon, Alessia! Steig ein. Ich tauche auch morgen nicht in der Bar auf.«
Soll das ein Versprechen sein? Wenn ja, kaufe ich ihm kein Wort ab.
»Fahr lieber nachhause zu deiner Frau«, rufe ich über meine Schulter hinweg. Romeo stößt ein Fluchen aus, und ich bin verschwunden, bevor er mich einholen kann mit seiner Protzkarre.
Den ganzen Fußweg nachhause zerbreche ich mir den Kopf über den heutigen Tag und unsere Begegnung. Ich wische mir frustriert über mich selbst, weil ich so schwach war, die Tränen fort und kaufe an dem kleinen Shop eine Straße vor meiner Wohnung mehrere Tafeln Schokolade und etwas zum Frühstück für später.
Als ich zuhause ankomme, dusche ich, wasche mir die Spuren vom Tag fort und kuschle mich mit der Tafel Vollmilchschokolade ins Bett. Bereits nach zwei Stückchen, schlafe ich ein und finde in einen traumlosen Schlaf. Wenigstens dort bleibt er mir gestohlen...
So einfach werde ich nicht einknicken, Romeo. Da kannst du warten, bis du schwarz wirst! Elender Verräter!

King of Palermo | 18+On viuen les histories. Descobreix ara