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ROMEO

»Alessia!«
Die Stimme, die in meine Ohren dringt, erkenne ich selbst nicht wieder, obwohl es die meine ist. In dem Moment als ich sie taumeln sehe, merke wie sie die Beherrschung über ihren eigenen Körper verliert und stolpert. Sie fällt direkt ins Meer, verschwindet im Wasser. Ich zögere keine Sekunde. Bevor meine Mitarbeiter auch nur reagieren können, renne ich über die Schwimmplattform und springe ins Wasser. Ich brauche einige Sekunden, um mich zu orientieren. Das Salzwasser brennt mir in den Augen, aber das könnte mir im Moment nicht egaler sein. Ich reiße meinen Körper im Wasser herum, suche verzweifelt nach ihr. Die Luft anhaltend, mache ich ihren Haarschopf neben den Rotoren der Yacht aus. Mit wenigen Zügen bin ich bei ihr, zerre ihren Körper an die Oberfläche. Nach Luft schnappend, halte ich ihren Kopf über Wasser und presse ihren Rücken gegen meine Brust. »Signor Parisi! Geben Sie sie uns!« Die beiden Crewmitglieder, die hier unten am Beiboot waren, sind sofort zur Stelle. Sie greifen ihr unter die Arme, ziehen ihren schlaffen Körper aus dem Wasser. Mein Herz rast so schnell wie noch nie in meinem Leben. Ich hieve meinen triefenden Körper aus dem Wasser und stolpere kopflos auf die bewusstlose Italienerin zu, drücke die Crewmitglieder zur Seite, um mich selbst davon zu überzeugen, dass sie noch lebt. »Alessia, komm schon...«, flehe ich sie an. Ihre Augen sind geschlossen, ihr Mund geöffnet. »Ruft einen Helikopter! Los!«, schreie ich um mich, klopfe immer und immer wieder auf ihre Wange, drehe ihren Körper auf die Seite, damit das Wasser, welches in ihre Lungen eingedrungen ist, herauslaufen kann. Zitternd taste ich mit meinen Fingerkuppen nach ihren Puls. Er ist schwach und kaum spürbar, aber da. Einer der Männer legt ein gerolltes Handtuch unter ihren Kopf, ein anderer breitet eine Decke über ihrem Körper aus, um sie zu wärmen. Verzweifelt schüttle ich sie. Das darf doch alles nicht wahr sein, verdammt! Sie darf nicht ... das darf nicht sein!

Ich habe diesen Schmerz, der meinen Körper gerade dominiert noch nie gespürt. Nicht mal nach Leandros Tod war das Gefühl in mir so intensiv wie jetzt. Es ist lähmend und unglaublich erschreckend, dass es mir den Atem raubt. Immer wieder sage ich ihren Namen, versuche irgendwie, sie aufzuwecken. Ich will nicht akzeptieren, dass ich sie vermutlich verlieren könnte. Jemanden, den ich nie verlieren wollte und mir nie vorgestellt hatte, je ohne sie Leben zu müssen. Ihren leblosen Körper in meinen Armen zu halten, tötet etwas in mir. Einen Teil, von dem ich nie gedacht hätte, dass er noch existieren würde. Ich presse sie an mich, vergrabe mein Gesicht in ihren nassen Haaren und bete stumm, dass sie mir das einzige auf der Welt nicht nehmen, die mir so viel bedeutet, wie Alessia. Jeden, nur nicht sie.
Könnte ich mir für sie eine Kugel einfangen, für sie sterben, würde ich es tun. Ich würde alles tun, wenn es bedeutet, dass sie in Sicherheit ist.

~

Die nächsten Stunden ziehen wie ein Film an mir vorbei, den ich schaue, obwohl ich mittendrin stecke. Jemand reißt sie mir aus den Armen, ich höre die Rotoren eines Helikopters, Leute, die zu mir sprechen. Doch ich funktioniere nur noch. Sie behandeln sie auf dem Deck, tragen sie zum Helikopter. Ich diskutiere mit ihnen, merke mir kein Wort von dem, was ich da eigentlich von mir gebe. Sie fliegen sie ohne mich von Board, ich muss ansehen, wie der Helikopter im Schutz der Nacht verschwindet. Zeit verschwenden tue ich keinesfalls. Meine Crew bringt mich zum Festland, meine Kleidung noch völlig nass. Es könnte mich nicht weniger Interessieren. Da es recht warm ist, bin ich fast trocken, als wir am Hafen ankommen. Ein Wagen bringt mich zum Krankenhaus, indem sie sie behandeln, und dann kann ich nur eines tun – warten.
Stunden vergehen, und obwohl die Stühle des privaten Flügels des Krankenhauses gepolstert sind, sind sie dennoch unbequeme Krankenhausstühle. Ich sitze mir fast den Arsch wund, bis ich es nicht mehr aushalte, und den Flur auf und ab laufe. Immer und immer wieder, auf und ab. Meine Gedanken überschlagen sich, sind so wahllos wie sie nur sein können. Zusammengewürfelt und einschüchternd. Ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen, weil sie wie eine Flut über mich hereinbrechen.
Niemand sagt mir etwas. Kein Arzt, keine Schwestern, keine Pfleger, niemand der mir über den Weg läuft, kann oder will sich zu ihr äußern. Nur eines höre ich immer wieder. Ich soll warten. Das macht mich fast Irre!

»Signor Parisi?« Erschöpft hebe ich meinen Kopf. Kurz nach vier Uhr morgens, spricht mich eine rothaarige Ärztin an. Blinzelnd schaue ich auf, bevor mein Körper sich automatisch aufrichtet und ich angespannt vor ihr stehe. Vor ihrem weißen Kittel hält sie ein Brett, an dem Dokumente klemmen. »Ja? Was ist mit ihr? Ist sie-« Ich traue mich nicht, die Worte auszusprechen. Das letzte Mal, dass ich so verzweifelt auf diesen Stühlen saß, war bei Leandros Tod. Ich kann mich an jeden Moment dieses Abends erinnern, als wäre es erst gestern gewesen. Alessia ist damals nicht von meiner Seite gewichen.
»Sie lebt, Signor Parisi. Folgen Sie mir bitte in mein Büro, ich würde gern mit ihnen sprechen.«
»Wieso? Sagen mir sie alles genau hier.« Was soll das bedeuten? Ich will nicht in dieses blöde Zimmer. Sie soll mir einfach sagen, was Sache ist. Immerhin sind wir hier allein, verdammt. Niemand ist in Sicht. Seufzend deutet die Ärztin auf die Stühle. Ich sinke nur widerwillig zurück auf die gepolsterte Schale. Sie nimmt neben mir Platz. »Signorina Rizzi -Alessia- hatte einen Schwächeanfall. Das ist nicht ungewöhnlich bei ihrem Krankheitsverlauf«, erklärt sie mir. Blinzelnd ziehe ich meine Augenbrauen zusammen und runzle meine Stirn. Ich verstehe nur Bahnhof. »W-was? Welche Krankheit? Von was sprechen Sie?«
Was will mir diese Frau gerade erklären? Das Alessia krank ist? Wieso sollte sie mir das verschwiegen haben?

»Sie wissen nichts davon?«, fragt sie mich ebenso verwundert. Völlig unverständlich für sie. Kopfschüttelnd raufe ich mir die Haare und lehne mich im Stuhl zurück. Meine Augen versinken in dem Bild an der Wand gegenüber, während ihre nächsten Worte, meine Welt völlig auf den Kopf stellen und alles, was ich glaubte, gnadenlos in der Luft zu zerreißen.
»Signorina Rizzi hat eine Herzinsuffizienz. Sie ist seit einigen Jahren in Behandlung, nimmt Medikamente, hat sie das nie erzählt?«
»Was?« Es fühlt sich so an, als würde mir mein ganzes Leben entgleiten und sich in Luft auflösen wie Staub. Ich kann nicht fassen, dass sie mir nichts erzählt hat und gleichzeitig weiß ich, dass ich allein daran schuld sind. »Was bedeutet das?«, hauche ich fragend. Die Stimme der Ärztin dringt nur noch gedämpft in meine Ohren. Die Gedanken in meinem Kopf, sind zu laut. »Ihre Herzleistung ist gerade unter fünfzig Prozent gefallen, Signor Parisi. Sie befindet sich auf der Transplantationsliste.«

Jemand schnürt mir die Luft ab. Unsichtbare Hände schlingen sich um meine Kehle, drücken mir die Luft ab und nehmen mir alles, was ich habe. Alles an was ich festgehalten habe, wird mir geraubt. Ich will die Worte dieser Ärztin nicht glauben. Am liebsten würde ich sie packen, schütteln und sie anbrüllen, mir keine Lügen aufzutischen. Das, was sie sagt, macht für mich keinen Sinn. Ich will aus diesem schrecklichen Traum aufwachen. Aber egal wie oft ich meine Augen schließe und öffne, ich bin immer noch hier in diesem Krankenhausflur. Machtlos und hilflos. »Ist sie wach? Ich will zu ihr gebracht werden«, fordere ich. Meine Stimme wackelt wie die Mauern meiner Selbstbeherrschung. In meinem Augenwinkel sehe ich wie sie ihren Kopf schüttelt. »Sie wird engmaschig überwacht und schläft im Moment. Sie können zu ihr, aber nicht für lang. Folgen Sie mir«, fordert sie mich auf. Und mit jedem Schritt, dem ich dem Zimmer näherkomme, desto mehr bröckelt die Fassade, die ich versuche aufrechtzuerhalten. Jetzt, genau hier, zählt nichts mehr für mich als Alessia. Ich schwöre mir, alles zu tun, damit sie das hier überlebt. Und wenn ich mein eigenes Herz für Sie geben muss. Ich würde es, ohne darüber nachzudenken, tun. Nur für sie.
Ich würde mein Leben für dich geben, Schmetterling.

King of Palermo | 18+Where stories live. Discover now