Ich weis, dass ich nichts weis

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Am nächsten Abend ist der große Hörsaal voller, als ich ihn je gesehen habe. Alle dreihundertzehn Plätze sind belegt und teilweise sitzen die Studenten auf den Treppengängen. Ich erkenne sogar einige Doktoren in der Menge.

Glücklicherweise hatte ich schon so etwas erwartet und war früher als sonst im Hörsaal gewesen. So habe ich meinen Stammplatz in der dritten Reihe mittig halten können
Professor Rotte ist auch schon da und putzt in weiser Voraussicht die große Tafel.
Inzwischen ist es auch schon fast Viertel nach, der Vortrag kann also jeden Moment beginnen.
Studenten in allen Ecken des Raumes sind leise am tuscheln, hier und da kratzt ein Bleistift auf Papier.

Von vorne ertönt ein deutliches Räuspern, aber es dauert auf Grund des vergleichsweise hohen Lärmpegels, bis auch in den hinteren Reihen angekommen ist, dass wir anfangen wollen.
Dann aber legt sich eine Totenstille über den Saal, wie ich sie zuvor noch nie auf der Uni erlebt habe. Es ist eine dieser Stillen, die mit lähmender Ruhe ihre Finger bis in die letzte Ecke ausstreckt.

„Guten Abend", Professor Rotte blickt sich im Hörsaal um. „Könnt ihr auf den Bänken etwas zusammenrücken? Dann müssen weniger Personen auf den Treppen sitzen. Das ist bei diesem nassen Schneewetter vielleicht nicht sonderlich bequem."
Bequem bestimmt nicht. Ich bezweifel, ob die Bänke besser sind.
Naja, zumindest sind sie weniger nass.

Während also das große Gerücke und Gerutsche beginnt, hängt Herr Rotte ein großes Plakat an die Tafel.
Links und rechts werde ich spätestens jetzt vollständig zwischen den anderen Studenten eingeklemmt.
Aber ich bemerke es kaum. Meine gesamte Aufmerksamkeit liegt auf dem Poster vorne, das den menschlichen Körper abbildet, und auf dem Professor, der jetzt endlich mit der Vorlesung beginnt.

„Ich bin mir sicher, dass jeder von Ihnen schon von der Stillen Seuche gehört hat. Viele haben vielleicht auch Angehörige oder Freunde, die betroffen sind", Professor Rotte blickt in viele nickende Gesichter.
„Aber wenn man bedenkt, dass uns die Krankheit jetzt schon seit über dreißig Jahren plagt, wissen wir bisher erstaunlich wenig über sie, obwohl sich Wissenschaftler auf der ganzen Welt mit dem Phänomen beschäftigen.

Aber beginnen wir doch ganz am Anfang. Wer weis, wann und wo der erste Fall der Stillen Seuche aufgetreten ist?"

Mehrere Hände fliegen in die Höhe. Eine junge Studentin antwortet. „War das nicht vor 32 Jahren in Lynon, in unserer Hauptstadt?"

„Richtig", Herr Rotte malt einen Zeitstrahl auf den noch leeren Platz an der Tafel und trägt das Ereignis ein. „Und wie viele Wellen gab es seitdem?"
„Siebenzwanzig", wirft ein Student ein.
„Neunundzwanzig, die letzten zwei miteinbezogen", korrigiert jemand anderes.

„Neunundzwanzig also", die Kreide fliegt über die Tafel. „Woran kann man die Stille Seuche erkennen?"
„Ohnmacht und Schwäche."
„Haarausfall."
Die üblichen Antworten plätschern durch den Hörsaal.

„Es ist bei jedem individuell, auch wenn es einige Symptome gibt, die immer auftreten. Aber alleine sind sie nicht aussagekräftig", sage ich. „Es gibt eine ganze Reihe an Faktoren, die außerdem noch auftreten können wie Schmerzen an unterschiedlichen Stellen des Körpers, Nervenschäden, Abmagerung, Übelkeit oder Durchfall. Entscheidend ist, dass die Energie des Körpers abnimmt. Darum muss ein Experte in Elementarmagie oder ein Dämon die Diagnose bestätigen."

„Sehr gut", der Professor blickt mich an und ein Funken von Wiedererkennen blitzt in seinen Augen auf. „Blackbone, richtig?"
Ich nicke.

Dann beginnt er mit Ausführungen über den Verlauf der Seuche und den Schaden, den sie im Körper anrichtet.
Er berichtet von den gängigen Symptomen, von dem Nährstoffverlust und letztendlich dem Organversagen, das zum Tod führt.
Und ich beginne mich zu wundern, warum mein Mittagessen noch nicht wieder auf der Ablage vor mir gelandet ist.

Schließlich zeigt der Zeiger der Uhr fünf vor 7.
Die meisten Inhalte waren altbekannt. Aber es sind so oder so die meisten für die Nachbesprechung gekommen.
„Damit stellen sich uns letzten Endes noch eine Menge Fragen.
Was hat die Stille Seuche ausgelöst?
Wie wird sie übertragen?
Die Antworten könnten uns auch einem Heilmittel näher bringen. Aber bis dahin können wir nur mutmaßen. Auch wenn die Forschung gerade in dem Gebiet auf Hochtouren läuft.
Damit bin ich mit meiner Vorlesung am Ende. Gibt es noch Fragen?" Er blickt sich um, während die Studenten auf der Ablage Beifall klopfen.

„Was ist der Stand der Forschung im Moment, was den Auslöser angeht?", ruft jemand in den Saal.
„Wir können gerade noch nichts bestätigen, nur ausschließen", erklärt Herr Rotte. „Aber einer unserer Masterstudenten, der gerade im Ausland ist und sich mit dem Thema befasst, konnte jetzt auch den letzten möglichen Balterienstamm ausschließen."

Er meint Harry. Bestimmt. Mein großartiger, fabelhafter Cousin arbeitet an einer Lösung für meine Probleme. Gerade könnte ich ihn glatt heiraten. Meine Sicht verschwimmt leicht, als sich Tränen in meinen Augen sammeln, aber ich blinzel sie weg. Nicht der richtige Ort und die richtige Zeit.

„Das heist, es wird wie eine Erkältung über die Luft übertragen oder von etwas, das wir noch nicht kennen."

„Wie wahrscheinlich sind die jeweiligen Möglichkeiten?", frage ich.

„Um ehrlich zu sein, sind beide eher unwahrscheinlich", gibt Professor Rotte zu. „Wenn Sie das Ansteckungsmuster betrachten, fällt auf, dass häufig ganze Familien betroffen sind oder zumindest Personen, die sich nahestehen. Das würde natürlich für eine Übertragung über Partikel in der Luft sprechen.
Allerdings bricht die Ansteckungskette an einem bestimmten Punkt ab. Es gibt ganze Familien, in denen nur eine Person betroffen ist und verglichen mit einer Erkältung ist das Muster zu unregelmäßig."

„Was ist, wenn die Stille Seuche nur eine sehr kurzes Ansteckungsrisiko hat im Vergleich mit ihrem Verlauf?", fragt eine andere Studentin.

„Auch eine gute Idee", gibt Professor Rotte zu. „Allerdings haben wir auch einige Fälle, wo sich Freunde oder Verwandte erst Jahre nach dem Ausbruch der Krankheit bei einem Bekannten angesteckt haben.
Letztendlich können wir es nicht sagen."

„Weis man inzwischen, warum es beinahe die letzten drei Jahre keine neuen Fälle gab?", möchte ich wissen.

„Ja", der Professor streicht sich nachdenklich über seinen kurzen, grauen Bart. „Das ist generell das größte Mysterium, das uns die Krankheit in all den Jahren aufgegeben hat.
Das würde natürlich wieder für die Theorie sprechen, dass es einen äußeren Auslöser gibt. Aber es gibt keine Ereignisse, die sich mit den ersten Fällen vor einem Monat in Verbindung bringen.
Also stehen wir dort auch wieder am Anfang."

Kurz herrscht betretenes Schweigen im Hörsaal.

„Gibt es neuste Ergebnisse bei möglichen Heilmitteln?", fragt ein Student die Frage, die ich mich nicht traue zu stellen. Die Frage, die zeigt, dass all meine Bemühungen letztendlich umsonst waren.

„Wie haben einige Versuche am Laufen, aber bisher keine klaren Ergebnisse. Einige Substanzen scheinen die Stille Seuche für eine kurze Zeit einzudämmen. Aber sie sind zur gleichen Zeit auch schädlich für den Körper."
Jetzt hat er alle Aufmerksamkeit.

„Sind es Gifte?", fragt jemand.

Professor Rotte schüttelt den Kopf. „Es sind keine Gifte und ich rate euch auch nicht, euch selbst auf die Suche danach zu begeben. Es geht um sehr gefährliche Dinge. Vor einer Woche haben wir fast zwei Doktoren daran verloren."
Wieder tritt Stille ein, aber diesmal ist sie so spannungsgeladen, dass es fast greifbar ist.

„Wie genau kann eine Krankheit denn von einer Substanz im selben Ausmaß wie unser Körper geschwächt werden?", frage ich. „Das klingt fast so, als würde die Krankheit leben."

Gruselig.
Scheiße, scheiße  gruselig.

Fight or DieWhere stories live. Discover now