Aufgeflogen

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"Was habt ihr angestellt?", Shua sieht mich und Lin sehr besorgt an.
"Gar nichts", meint Lin und stellt das Glas in ihrer Hand auf den Verkaufstisch im Wurm.
"Flo?", Shua blickt mich fast schon flehend an. "So nett ist sie nur, wenn etwas ist."
"Wenn alles so läuft wie geplant, passiert nichts", versichere ich, kann mir aber ein Grinsen nicht verkneifen. "Keine Bange. Wir haben das Ganze vorher an Ratten und Straßenhunden getestet."

"Ihr lügt mich an", resigniert starrt Shua auf den Cocktail vor ihm. Dann erst tritt Verstehen in seine Augen. „Nein. Nein! Nein!"
„In dem Getränk ist kein Gift", meint Lin und schiebt das Glas noch ein Stück weiter auf ihn zu. „Pass nur auf, dass du keine von den Bubbles verschluckst."
„Also kein Fruchtsirup?", fragt Shua.
Lin und ich schütteln den Kopf.

„Ihr schuldet mir was." Ohne zu Zögern greift er nach dem Getränk und nimmt einen großen Schluck.
Mit einem Klicken aktiviert Lin die Stoppuhr. Zusammen betrachten wir ihn leicht besorgt. Tiefe Stille liegt über dem Raum. Doch auch, als die Minuten verstreichen, scheint sich Shuas Zustand nicht zu ändern.
Nach fünf Minuten stoppt Lin die Uhr und sieht mich fragend an. Ich schüttel grinsend den Kopf. Auch seine Energiespur ist immer noch genauso strahlend wie zuvor.
„Geschafft!", freudestrahlend wirft Lin ihre Arme um mich und für einen Moment setzt mein Herzschlag aus. „Es hat wirklich funktioniert!"

Und wieder sind wir einen Schritt näher an der Messe und Ians Tod.

Inzwischen unterstütze ich Lin darin auch.
Infos über Ian Mandory zu finden, ist erstaunlich einfach.
Er ist der bekannteste und erfolgreichste Auftragsmörder im ganzen Land, berühmt für seine Effizienz. Gerissen und kaltherzig wird er nur durch die fast stoische Langeweile, mit der er seine Taten durchführt, noch gefährlicher. Ein Einzelgänger ohne Freunde. Es interessiert ihn nicht, wer das Opfer ist. Von Adeligen bis Obdachlosen soll schon alles auf seiner Abschussliste gestanden haben.
Häufig wird er als Bestrafer des Ekklesiums ausgesandt, um diejenigen auszumerzen, die sich den Regeln widersetzen.
Leute, wie mich.

Sein magisches Potenzial ist unglaublich groß, was ihn zu einem der mächtigsten Dämonen dieses Landes macht. Mächtiger noch als manche Mitglieder des Ekklesiums.
Dann gibt es da noch das Gerücht über seine Unbesiegbarkeit. Und nachdem ich gesehen habe, wie er aus einem Raum fliegen konnte, in dem ein paar explosive Käfer wie kleine Granaten direkt neben ihm hochgegangen sind, bin ich fast dazu geneigt, es zu glauben.

Was also am Ende die Frage aufwirft, wie ethisch korrekt es ist, so jemanden umzubringen.
Und auch wenn ich ein Freund von Gesetzen bin und nicht daran glaube, dass man Personen ermorden darf, muss ich zugeben, dass meine Ansichten sich in der letzten Zeit etwas geändert haben.
Dass ich selbst immer mehr auf Kriegsfuß mit gesellschaftlichen Normen und Gesetzen stehe.

Und letztlich läuft es wieder auf eine Frage hinaus: wenn er Leben aufwiegen darf, warum dann nicht auch ich?
Was hatte Lin gesagt? Ihr Pech, dass ich zuerst da war.

War das inzwischen mein Leben geworden?

Am nächsten Tag hocke ich wieder in meiner Lieblingsecke in der Bibliothek, versunken in „Rituale - Wirkungen und Verwendung von Hilfsmitteln". In einer Hand eine Adlerfeder, die andere gen Sofa gerichtet. Mein Stock liegt neben mir auf der Bank.
Inzwischen bin ich von ‚Energie aufnehmen' zu ‚mit Energie spielen' übergegangen.
Was heist, dass ich seit neustem morgens meditiere. Damit ich lerne, das Blut in meinem Körper zu lenken. Und im Moment möchte ich, dass meine Füße besser durchblutet werden.
Mein Ziel? Energie an der untersten Seite meines Körpers zu sammeln und ein Energiefeld unter meinen Füßen zu schaffen, dass stark genug ist, dass es mich trägt.

„Klausurenstress?" Risys Energiespur erkenne ich, bevor ich mich umdrehe und verstecke schnell die Feder.
„Dieses Semester glücklicherweise nicht", ich lächle sie an.
„Die neue Frisur steht dir ", meint sie. „Aber wie geht's dir?"
Ich zucke mit den Schultern. Scheiße. Aber das will ich nicht zugeben. „Bücher schleppen helfen kann ich nicht mehr."

„Das hab ich mir schon gedacht", ihr Grinsen wird schief. „Ich werd es vermissen, aber ich schaffe das auch alleine", ein Zwinkern in meine Richtung.
„Außerdem hab ich gedacht, dass dich die Sondervorlesung diesen Monat vielleicht interessiert."
„Sondervorlesung", ich blinzel irritiert zu Risy hoch. Sie zieht ihren langen, schwarzen Zopf fest.
„Anlässlich der neuen Wellen der Stillen Seuche hält Professor Rotte einen Vortrag zu dem Thema morgen Abend."
„Rotte? Das ist der Dekan der Fakultät für Mikro- und Immunbiologie, oder?" Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich auch schon bei ihm in der Vorlesung saß. Und viel zu viele Fragen gestellt habe...
„Genau", Risy nickt. „Da kannst du all deine Fragen loswerden." Ich setze zum Sprechen an, aber sie unterbricht mich vorher.

„Versuch jetzt nicht, mich für dumm zu verkaufen. Das würde meinem Glauben an unsere Freundschaft schwächen. Ich kann eins und eins zusammen zählen, auch wenn mein Schwerpunkt nicht in den dunklen Zweigen der Magie liegt oder in den Naturwissenschaften."

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich bin aufgeflogen. Es ist vorbei.
Mein Leben liegt in Risys Händen und ich kann nur zusehen. Plötzlich bin ich vom Spieler zur Spielfigur auf dem Schachbrett geworden.

„Versteh mich nicht falsch", sie mustert mich, die Arme vor dem Körper verschränkt. „Ich unterstütze nicht, was du tust, noch werde ich dir helfen. Aber ich kann es verstehen. Und ich hoffe, dass die paar Monate, die du dir damit rausschlagen konntest, es wert sind."

Ich nicke wortlos, noch immer stummgeschlagen. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich wirklich, vollständig machtlos.

„Aber Violet", Risy blickt besorgt auf mich nieder. Ich starre sie noch immer mit groß aufgerissenen Augen an. „Pass auf, mit wem du dich einlässt. Ich erkenne eine Linnéa Domma, wenn ich sie sehe." Ihre Hand deutet auf die Eingangshalle unten.

Und auch ich erkenne die inzwischen allzu bekannte Figur auf einem der Stühle sitzend und nachdenklich in die Leere starrend.

„Sie dürfte nicht einmal hier sein. Nicht seit die Uni ihr Hausverbot erteilt hat. Du weist, dass sie alles für den richtigen Preis tut?", Risy sieht noch immer besorgt aus. „Dass sie vor nichts zurück schreckt?"

Ja, das weis ich.
Wahrscheinlich besser als die meisten.

Aber ich weis auch, dass sie mich aus einem explodierenden Keller gerettet hat, obwohl sie mich hätte sterben lassen können. Ok, sie war auch an erster Stelle an der Explosion schuld, aber sie hätte mich auch einfach da liegen und sterben lassen können.
Ich weis, dass sie mich in meinen Recherchen immer wieder auf die richtige Fährte geführt hat und dass sie mir ihre Freundschaft angeboten hat, bevor ich es verstanden hatte.

„Sie ist ein bisschen durch den Wind, seit ihre Familie vor drei Jahren umgekommen ist. Und nicht auf die gute Weise.
Vorher hat sie auch hier studiert, aber seitdem... sie war nie wieder dieselbe. Ist ein bisschen durchgedreht."

Stimmt, den Eindruck kann man häufiger mal bekommen.
Aber auch wenn es mich fuchst, es zuzugeben, aber ich wäre niemals so weit gekommen, wenn sie mich nicht auf Schritt und Tritt herausgefordert hätte.

„Ich passe auf", verspreche ich Risy.
Augenkontakt. Feste Stimme. Die Lüge sitzt.
Die Anspannung weicht aus ihren Schulter .
„Und Danke nochmal für alles."

Nur bringen mich gut gemeinte Ratschläge nicht aus dem Grab.

Fight or DieWhere stories live. Discover now