Bücherwurm

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"Ich hab mir schon gedacht, dass du wieder hier bist", ein sommersprossiges Gesicht taucht am Rande meines Blickfeldes auf. Ich kuschel mich noch ein bisschen mehr in die Decke, die ich mir über die hochgelegten Beine und den Oberkörper gelegt habe und drücke mich tiefer in den Sessel.
"Viel wichtiger, hast du Kaffee mitgebracht?", ich muss schon wieder gähnen und mich bemühen, die Augen aufzulassen. Etwas Koffein käme mir gerade recht.
"Davon ausgehend, dass du wieder die ganze Nacht hier verbracht hast, weil dein Zimmer leer und deine Bettdecke unangerührt ist, hab ich gedacht, ich packe noch ein paar Pfannkuchen und etwas Rührei mit drauf." Harry stellt ein dampfendes Tablett auf meinen Schoß. Die süßen Pfannkuchen erfüllen den gesamten Raum mit ihrem zuckrig-fettigem Geruch und wie zur Antwort knurrt mein Magen laut.
"Gerade könnte ich dich glatt heiraten", grinse ich, bevor ich nach der Tasse mit Kaffee greife.
"Vorsicht", meint Harry nur und lässt sich in einem Sessel mir gegenüber nieder. "Ist noch heiß."
"Mir egal. Ich schlafe sonst ein."

Während ich genüsslich den Kaffee schlürfe, betrachtet Harry die Bücher, die überall über den kleinen, runden Tisch neben mir verstreut liegen.
"Vielleicht solltest du dir auch nicht hier die Nächte um die Ohren hauen, sondern wirklich in deinem Bett liegen. Deine Augenringe könnte man glatt mit einem Veilchen verwechseln."
"Uhh", theatralisch fasse ich mir ans Herz. "Jetzt hast du mich aber verletzt. Und ich dachte, ich würde am ehernsten noch einem Panda ähneln."
"Ehrlich Flo", mein Cousin greift nach einem der Bücher und blättert es interessiert durch. "Das strengt deinen Körper an. Es gibt bessere Wege mit der Stillen Seuche umzugehen."
Ich kann ihm kaum sagen, dass gerade diese langen Nächte langfristig genau das Gegenteil bewirken sollen. Also nicke ich nur und stopfe Pfannkuchen in mich hinein. Sie sind perfekt. Süß und saftig. Wahrscheinlich hat Harry sie aus der Küche von Oliver geklaut.
Der seufzt nur und verdreht die Augen, aber er sagt nichts. Das rechne ich ihm hoch an. In seiner Position hätte ich mich ans Bett gefesselt und mich zur Ruhe gezwungen.

"Und seit Neustem bist du voll im Kinderbüchergenre?", fragend hält Harry das Buch hoch, dass er gerade vom Stapel gezogen hat.
"Klar", scherze ich und klappe das Buch zu, in dem ich gerade gelesen habe. "Ich brauche herzerwärmende Geschichten, die mir über die kalte Schulter hinweghelfen, die mir meine Familie zeigt. Besonders mein Cousin kann ein Eisberg sein."
Harrys Grinsen zieht sich von einem Ohr zum anderen. "Das muss ja ein ganz schöner Kotzbrocken sein."
"Größer als du es dir vorstellen kannst." Dann ziehe ich die Buchseite aus einer Tasche in meinem Kleid und reiche sie ihm.

"Deshalb bin ich hier. Die hab ich im Spielzimmer gefunden. Ich glaube, sie stammt aus einem der Bücher hier und wollte sie wieder dem richtigen Buch zuordnen."
"Dafür opferst du deinen Schlaf?", jetzt klingt Harry dich ein bisschen ungläubig. Ich traue mich nicht, ihm in die Augen zu blicken. War es die richtige Entscheidung ihm die Seite zu zeigen? Ich unterdrücke den Impuls nervös an meinen Fingernägeln zu kauen. Aber er geht nicht weiter darauf ein. Minuten vergehen, während er die Seite studiert und ich mir Rührei und Pfannkuchen einverleibe.
"Und warum guckst du danach in Kinderbüchern?", fragt er schließlich.
"Ich dachte, das wäre aus irgendeiner Geschichtensammlung", antworte ich. "Leute, die deine Fingernägel essen... das klingt als hätte man versucht, damit Kinder zu erziehen." Harry nickt nur gedankenverloren und starrt weiter auf die Seite.

"Ich glaube nicht, dass es aus einem Kinderbuch ist.", meint Harry schließlich.
"Nicht?", ich beuge mich interessiert vor. Er schüttelt den Kopf mit den krausen Locken. "Was soll es sonst sein?"
Einen etwas zu langen Moment herrscht Stille. Ich kann praktisch die Räder in Harrys Kopf arbeiten sehen. "Und du bist wirklich sicher, dass du das hier im Spielzimmer gefunden hast?"
Jetzt muss ich ihn ansehen. "Ja."

Mein Gesicht brennt. Hoffentlich sieht er mir die Lüge nicht an. Aber mein Cousin verrät sich nicht einmal durch ein Zucken mit den Wimpern.
„Ich glaube, dass das hier aus einem alten Buch über Elementarkunde stammt. Vielleicht eine Einführung in ein spezielles Thema oder ähnliches."
Ich kann ein Schnauben nicht unterdrücken. „Also ehrlich, Harry. Meinst du nicht, dass sie uns so etwas dann in der Schule gelehrt hätten?"
„Du solltest dich dringend weiterbilden", mein Cousin klingt nicht einmal missmutig, es ist einfach eine simple Feststellung. „An der Universität gibt es ganze Abteilungen, die man nicht durchlesen darf, bis man ein gewisses Level in Elementarkunde erreicht hat. Wieso sollten sie euch dann in der Schule schon alles beibringen?" Darauf kann ich nichts antworten. Das wusste ich nicht.
„Kennst du Krenzik?", fragt Harry mich. Ein Schauer überläuft mich.
„Das Gefängnis?" Klar habe ich schon einmal davon gehört. Jeder hat das. In Krenzik werden die Leute weggesperrt, die sich nicht in unsere Gesellschaft eingliedern wollen. Mörder, Magier, die sich nicht vom Ekklesium regieren lassen wollen und eine Gefahr für andere darstellen. Tief unter dem Wasser ist es gelegen. So tief, dass kein Licht je den Grund erreicht und die Schreie der Gefangenen nicht an die Oberfläche dringen.

„Hast du schon einmal davon gehört, dass jemand dort eingesperrt wurde?", hakt Harry nach. Ich schüttle den Kopf. Jetzt, wo ich genauer darüber nachdenke, fallen mir etliche Ungereimtheiten auf. „Es unterliegt absoluter Geheimhaltung, wer dort inhaftiert ist und aus welchem Grund genau."
„Und du denkst, dass auf dieser Buchseite der Grund geschrieben steht?", mutmaße ich. Plötzlich bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee ist das Buch zu finden, aus dem diese Seite herausgerissen wurde. Vielleicht sollte ich es einfach ruhen lassen. Aber ... nein, das kommt nicht in Frage. Ich will zumindest wissen, worum es geht und welchen Weg mein Vater einschlagen wollte.
„Ich denke, dass es auf dieser Welt vieles gibt, was wir noch nicht wissen", Harrys Gesicht ist ernst geworden. "Aber wenn es das ist, was ich glaube, Flo, musst du dringend besser im Lügen werden."

Fünf Tage später habe ich das Buch noch immer nicht gefunden, dafür habe ich mir allerdings einiges an Wissen angelesen. Mir war vorher nie bewusst, dass unsere kleine Bibliothek doch so viele Bücher hat. Irgendwann ist mir auch der Gedanke gekommen, dass das Buch, das ich suche, gar nicht aus unserem Haus stammt. Seitdem ignoriere ich diesen Einfall gekonnt.
Inzwischen scheint auch der Rest meiner Familie meinen neuen Lieblingsplatz gefunden zu haben. Und seitdem ich abends beim Essen den einen oder anderen interessanten Fakt zum Gespräch beitragen kann, hat selbst Tyson es nicht gewagt mich zu kritisieren.
Traurig.
Obwohl meine Mutter auffallend häufig abwesend war.
Egal. Hauptsache sie lassen mich in Ruhe.

Ich nippe an meinem Kaffee, während ich im aktuellen Buch herumblättere. Es ist ein so dicker Wälzer über Elementarkunde, wie ich ihn noch nie gesehen habe.
Harry ist leider nicht wieder vorbeigekommen. Stattdessen ist er viel in der Uni, arbeitet mit seinen kleinen auftauchenden Punkten, die er Bakterien nennt und trifft die letzten Vorbereitungen für seine Studien im Ausland.
Komplett nutzlos, wie mein Großvater sagen würde. Was will er später nur mit Sachen anfangen, die man nicht sieht? Ich finde es eher spannend, dass es so etwas überhaupt gibt. Und Harry brennt für seine Forschungen. Ich glaube, dass er es später einmal weit bringen wird, auch wenn ich keine Ahnung habe, wovon er die meiste Zeit redet. Selbst wenn er versucht, es mir zu erklären.

Seufzend lege ich den Wälzer beiseite und greife nach dem nächsten Buch auf dem kleinen Tisch neben meinem Sessel.
Es ist dünn. Dem Ekklesium sei Dank. Die ersten Seiten überfliege ich nur. Es scheint ein Buch zu sein, das keine genauen Anweisungen zu spezifischen Zaubern zu geben scheint, sondern sich stattdessen darauf zu beschränken scheint, eine kurze Übersicht über die verschiedenen Bereiche zu geben. Ich blättere weiter und hoffe, dass mich irgendein Thema anspricht.
Erst bei dem letzten Kapitel werde ich aufmerksam. Es beschäftigt sich mit den Grenzen der Elementarlehre. Aber was mein Herz zum Klopfen bringt, ist die Illustration, die das Kapitel einleitet.

Ein Mann ist dort aufgezeichnet, er hat die Hände gehoben und seine Gesicht ist mit geschlossenen Augen gen Himmel gerichtet. Vor ihm auf einem Tisch liegt eine andere Person. Ob es eine Frau oder ein Mann ist, kann ich nicht erkennen, so sehr sind die Gesichtszüge und der Körper ins Unerkenntliche verzerrt. Aber ein kurzer Blick allein genügt, um mir zu sagen, dass sie große Schmerzen leidet. Und von ihrem Körpern steigt etwas nicht greifbares auf und es scheint direkt in die Hände des Mannes zu fließen, der gerade die Beschwörung ausführt.
Aufgeregt blättere ich weiter und tatsächlich - dort fehlt eine Buchseite!
Meine Hand zittert ein wenig, als ich die Buchseite aus meiner Tasche krame und sie an die Abrisskante halte. Sie passt perfekt.

Bis die Sonne untergeht lese sich weiter in dem Buch, obwohl sich mein Magen mit jedem Wort etwas mehr verknotet.
Dann muss ich zum Abendessen.

Fight or DieWhere stories live. Discover now